Unipolare Depression

Artikel aktualisiert am 26. Oktober 2023

Depression ist eine Sammelbezeichnung für depressive Erkrankungen oder depressive Störungen verschiedener Entstehungsgeschichten und Verläufe. Wer niedergeschlagen ist, muss nicht gleich an einer Depression leiden; eine nachvollziehbare Trauerphase ist keine Depression im medizinischen Sinne. Es kommt auf die Umstände, den oder die Auslöser, die Art der Auswirkung auf Leben, Erleben und Verhalten und auf die Dauer und den Verlauf der Niedergeschlagenheit an. (1)S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression (2)J. Pers. Med. 2021, 11, 155. doi.org/10.3390/jpm11020155 In diesem Artikel wird die unipolare Depression behandelt.

Das Gehirn
Suizidalität


Das Wichtigste verständlich

Kurzgefasst
Die unipolare Depression (MDD) ist eine schwerwiegende psychiatrische Erkrankung mit deutlich erhöhter Selbstmordrate. Die subjektiv erlebte dauerhafte Niedergeschlagenheit und Antriebshemmung kann zwar einen nachvollziehbaren Anlass haben, was aber nicht immer der Fall ist, sie ist jedoch in Dauer und Ausprägung nicht nachvollziehbar. Die Gedanken kreisen um negative Inhalte bezüglich sich selbst und die Umwelt. Das Selbstmordrisiko ist etwa 30-fach erhöht. (3)Psychol Bull. 2017 Aug;143(8):783-822. doi: 10.1037/bul0000102.
  • Die MDD ist assoziiert mit körperlichen Krankheiten, wie Zuckerkrankheit (Diabetes), koronarer Herzkrankheit, plötzlichem Herztod, Schlaganfall und Übergewicht. Das Risiko für eine Alzheimer-Demenz ist erhöht.
  • Eine genetische Grundlage ist nicht fassbar, obgleich in einigen Fällen eine schwache Vererbbarkeit (Heritabilität) nachweisbar ist. Epigenetische wirkende Umweltfaktoren scheinen von Bedeutung zu sein.
  • Wesentliche Auslöser sind gehäuft traumatische Erlebnisse und Einflüsse in früher Jugend. Eine mangelhafte Stressbewältigung (Resilienz) spielt eine zentrale Rolle.

Im Gehirn entwickeln sich bei der Depression Anomalien den Regionen, die mit dem Belohnungssystem in Verbindung stehen. Sie können in bildgebenden Verfahren (MRT) nachgewiesen werden. Dies macht deutlich, dass eine lange bestehende Depression nicht rasch in Remission (Symptomfreiheit) zu bringen sein wird, und dass eine möglichst frühe Diagnose für die Prognose essentiell ist. (4)J Exp Pharmacol . 2021 Feb 24;13:181-196. doi: 10.2147/JEP.S259302.

Die Behandlung sollte so früh wie möglich einsetzen, um Verfestigungen und Veränderungen des Gehirns möglichst zu vermeiden. Sie ist von erfahrenen Psychiatern zu leiten. Medikamentös kommen moderne Antidepressiva in Betracht. Neue Entwicklungen betreffen den Einsatz von Ketamin, einer tiefen Hirnstimulation und einer Vagusreizung.


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Definitionen

Eine Depression gehört zu den „affektiven Störungen“. Dies sind Störungen der Stimmung, die als Extreme neben krankhafter Niedergeschlagenheit auch abnormale Überspanntheit, Hochstimmung und Aktivismus (manische Symptome) beinhalten. Dazwischen liegt eine weite Bandbreite von Ausprägungen.

Die „unipolare“ Depression (engl.: major depression, major depressiv disorder, MDD) ist eine Stimmungsstörung in nur eine Richtung, die einer Niedergeschlagenheit. Sie ist abzugrenzen von einer depressiven Störung im Wechsel mit Episoden von gesteigertem Antrieb und Hochstimmung (manische Phasen), also einer Depression im Rahmen einer „bipolaren“ Störung (zwei Krankheitspole), die unterschiedlich zu behandeln ist. Sonderformen betreffen die Schwangerschafts- und postpartale Depression (5)Front. Psychiatry 12:620371. doi: 10.3389/fpsyt.2021.620371 und die drogeninduzierte depressive Störung.

Häufigkeit

Im Laufe des Lebens leiden bis zu 20% der Menschen an einer länger dauernden depressiven Verstimmung verschiedenen Ausmaßes (Lebenszeitprävalenz); in Deutschland sind es um 9%, in Taiwan 1,5%, in den USA 3%, in Frankreich 4,5%, in Beirut 19%. Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. (6)Annu Rev Public Health. 2013 ; 34: 119–138. doi:10.1146/annurev-publhealth-031912-114409.

Entstehung, Ursachen und fördernde Faktoren

Offenbar sind eine genetische / epigenetische (polygenetische?) Veranlagung wie auch Umwelteinflüsse für das Entstehen einer Depression mitverantwortlich. Einzelne Gene, die depressive Stimmungen fördern, sind bisher nicht identifizierbar gewesen. Auslösenden Umständen kommt in jedem Fall eine hohe Bedeutung zu. Dies können psychische Erlebnisse sein, aber offenbar auch infektiöse Erreger oder toxische Substanzen.

Genetische / epigenetische Grundlagen

Eine genetische Grundlage der MDD ist durch genomweite Assoziationsstudien nicht entdeckt worden, obwohl eine schwache Vererblichkeit (in 37%) besteht. Zwillingsstudien zeigen eine Unterschiedlichkeit in 50%, was auf eine besondere Rolle von Umweltfaktoren schließen lässt. (7)Psychiatry Clin Neurosci . 2018 Apr;72(4):212-227. doi: 10.1111/pcn.12621. Es wird vermutet, dass Einflüsse des persönlichen Umfelds über epigenetische Mechanismen die Plastizität des Gehirns beeinflussen und zur Entwicklung psychiatrischer Erkrankungen, wie der Depression, beitragen können. (8)Psychiatry Clin Neurosci . 2018 Apr;72(4):212-227. doi: 10.1111/pcn.12621.

Stress, Stressverarbeitung

Stressfaktoren und die Fähigkeit, mit Stress fertig zu werden, spielen eine zentrale Rolle. Schon das Burn-out-Syndrom, das als ein psychischer und körperlicher Erschöpfungszustand angesehen wird, ist durch eine Überforderung durch Stress bedingt und kann eine depressive Entwicklung einleiten. Eine mangelhafte Stressbewältigung spielt bei einer manifesten Depression eine besonders bedeutsame Rolle. Durch Stressfaktoren kommt es zu einer überproportionalen Bildung des Stresshormons Kortisol, wie in Studien zur Depression immer wieder offenbar wird, zu einer erhöhten Entzündungsreaktion im Gehirn sowie zu einer Abnahme der Plastizität der neuralen Verbindungen. (9)Neural Plast . 2017;2017:6871089. doi: 10.1155/2017/6871089.

Jugendtraumata

Von besonderer Bedeutung sind in früher Jugend erlebte Verlust- und Trennungsängste und die vom Kind empathisch miterlebten Ängste von Bezugspersonen. Damit steigt die Vulnerabilität (Verletzlichkeit) gegenüber später erlebten Ängsten bezüglich sozialer Isolation und entzogener Zuwendung. Kinder depressiver Eltern (vor allem Mütter) entwickeln sich oft verzögert und gestört und haben ein erhöhtes Risiko, später selbst an einer Depression zu erkranken.

Erziehungsfaktoren

Verstärkend wirkt eine Erziehung zu „erlernter Hilflosigkeit“, bei der das Kind sich nicht zu einer Persönlichkeit entwickeln kann, die mit besonderen Anforderungen und Belastungen fertig wird, sondern bei der es gelernt hat, auf die Hilfe anderer zu warten. Übervorsichtige, ängstliche und beschützende Eltern, die das Kind nicht mit den Herausforderungen des Lebens in eine stärkende Auseinandersetzung treten lassen, können solch eine Entwicklung in Gang bringen.

Lichtmangel

Eine saisonal auftretende Depression (seasonal affective disorder, SAD) kann durch Lichtmangel hervorgerufen worden sein. In nordischen Ländern ist die Winterdepression bekannt. Sie gehört zu den rekurrierenden Depressionen. Ihre Prävalenz liegt in Florida bei 1,4% und in Alaska bei 9,9%. Sie kommt im Frühjahr in Remission und lässt sich in einigen Fällen durch Lichttherapie behandeln. (Dazu siehe unten.)

Symptome und Auswirkungen

Symptome  einer depressiven Phase

Eine depressive Episode ist gekennzeichnet durch eine über mindestens 2 Wochen anhaltende Phase niedergedrückter Stimmung mit Freudlosigkeit (Anhedonie), Interesselosigkeit, Konzentrationsstörungen und Antriebshemmung. Hinzu kommen je nach Schweregrad Hoffnungslosigkeit, grüblerische Selbstzweifel, nachlassender Lebensmut und Gedanken des Unwerts des eigenen Lebens. Die einzelnen Gefühlsregungen betreffen das innerste Empfinden und greifen das Selbstwertgefühl an. Es handelt sich um eine „affektive Störung“ (Gefühlsstörung, emotionale Störung). In schwacher Ausprägung können die Empfindungen noch vor anderen Menschen verborgen werden, wobei ein straffer Tagesablauf mit Verpflichtungen dabei helfen kann, die Niedergeschlagenheit zu  verbergen (verborgene Depressive). Ist die Niedergeschlagenheit stärker ausgeprägt, nimmt die Fähigkeit, den normalen Tagesablauf zu beherrschen, ab. Solch eine Depression kann sich über Monate hinziehen oder anhalten (siehe unter Verlauf).

Auswirkungen

Depressive Phasen gehen mit einer Abnahme des Appetits (damit auch des Gewichts), des Schlafs und der sexuellen Appetenz einher. Erkrankte lassen sich bei stärkerer Ausprägung nicht mehr aufmuntern und ziehen sich zurück. Sozialkontakte brechen ab. Partnerbeziehungen leiden; die Familie und die Kinder werden vernachlässigt. Kinder depressiver Eltern (vor allem Mütter) entwickeln sich verzögert; sie haben später ein erhöhtes Risiko, ebenfalls an einer Angststörung, eine Verhaltensstörung und / oder einer  depressiven Erkrankung zu leiden. Ausgeprägt depressive Phasen gehen mit einer hohen Suizidalität (Selbstmordrate) einher. (10)J Affect Disord. 2007 Jan;97(1-3):145-54. DOI: 10.1016/j.jad.2006.06.010. Epub 2006 Jul 24. PMID: … Continue reading (11)J Am Acad Child Adolesc Psychiatry. 2008 Apr;47(4):390-398. DOI: 10.1097/CHI.0b013e31816429c2. … Continue reading (12)JAMA Psychiatry. 2018 Mar 1;75(3):247-253. DOI: 10.1001/jamapsychiatry.2017.4363. PMID: 29387878; … Continue reading

Diagnostische Kriterien und Schweregrade

Notwendige Kriterien für eine Depression sind folgende (13)S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression, 2015:

  • gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit, tiefe Traurigkeit,
  • Anhedonie: fehlende Empfänglichkeit für freudige Ereignisse und freudige Stimmung, fehlende Reaktionsbereitschaft auf Belohnung,
  • Interesselosigkeit,
  • Lethargie: Antriebslosigkeit, Einschränkung der Aktivitäten,
  • erhöhte Ermüdbarkeit schon nach kleineren Anstrengungen.

Die Diagnose einer MDD bedarf mindestens eines der beiden Hauptsymptome Anhedonie und/oder gedrückte Stimmung.

Weitere Symptome sind Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Gewichtsabnahme, Vermeidung von unnötigen Kontakten bis hin zu Sozialphobie, sexueller Lustlosigkeit und übersteigerten Ängste. Die Symptome können unterschiedlich ausgeprägt sein. Je nach Vorherrschen einzelner Symptome werden verschiedene Typen propagiert.

Schweregrade: Der Verlauf einer MDD wird nach Schweregrad eingeteilt in leicht, mittelschwer und schwer. Zugrunde gelegt werden Scores, wie der Hamilton Depression Scale. Bei leichtem Verlauf kann der Betroffene beispielsweise seine Arbeitsfähigkeit noch im Griff behalten, beim schweren kann akute Suizidalität entstehen. Dazwischen sind verschiedene Ausprägungen und Verläufe möglich. Je länger eine Depression besteht und je schwerer ihre Ausprägung ist, desto schwieriger ist ihre Therapie und desto größer wird die Therapieresistenz. Eine möglichst frühe Diagnosestellung ist daher anzustreben.

Psychotische Symptome sind nicht die Regel, aber bei schwerem Verlauf einer MDD möglich. Es können wahnhafte Ideen einer Versündigung, einer bevorstehenden Verarmung oder von gefühlter Verantwortlichkeit für Katastrophen entstehen. Auch können Geruchs- oder sonstige Halluzinationen auftreten.

Abgrenzung zu ähnlichen Erkrankungen

Die monopolare Depression (MDD) ist anfangs oft nicht leicht zu erkennen. Probleme kann die Differenzierung zu anderen Krankheiten mit depressiver Komponente sein. Von besonderem Interesse sind dabei die folgenden:

  • Depression im Rahmen einer bipolaren affektiven Störung: In diesem Fall wechseln Phasen einer Depression mit manischen Phasen (Überaktivität, übersteigerte Hochstimmung, auch besondere Reizbarkeit) ab. Das Suizidrisiko ist hoch. Zwischen den Phasen können normale Abschnitte unterschiedlicher Länge liegen. Da die hypomanischen / manischen Phasen oft nicht richtig eingeschätzt werden, wird die bipolare Störung wahrscheinlich unterdiagnostiziert. Bei der Erstdiagnostik einer depressiven Erkrankung ist anamnestisch besonders nach Phasen überschwänglicher Gemütslage zu fahnden. Die medikamentöse Behandlung wird in der Regel in depressiven Phasen mit Antidepressiva, im akuten Notfall mit Ketamin, und in manischen Phasen mit Carbamazepin oder Neuroleptika bzw. Nachfolgepräparaten durchgeführt. Eine vorbeugende Wirkung kann mit Stimmungsstabilisatoren, wie Lithium oder Valproat, erzielt werden.
  • Ängstlichkeit: Während bei Ängstlichkeit mehr Beunruhigung und Sorge, verbunden mit Reizbarkeit und Konzentrationsverlust, überwiegen, dominieren bei der MDD mehr die Abnahme von Energie, Tatendrang und Motivation, verbunden mit Mattigkeit, Schlafstörungen und Appetitverlust, und es überwiegt die Traurigkeit. Jedoch ist Ängstlichkeit locker mit Depression assoziiert und kann sie verstärken. Ängstlichkeit ohne (nicht ausreichend nachvollziehbare) Traurigkeit wird nicht der Depression zugeordnet. (14)J Headache Pain . 2017 Dec;18(1):37. doi: 10.1186/s10194-017-0742-1. Eine anhaltende und übersteigerte Ängstlichkeit sollte aber in jedem Fall Anlass für eine fachärztliche Diagnostik sein.
  • „Depressive Verstimmung“ (Dysthymie): Dies ist ein Fachbegriff für einen Zustand reduzierter Stimmung, die mindestens über 2 Jahre anhält, die aber noch nicht die Kriterien einer Depression erfüllt. Es überwiegen grüblerisches Wesen, Schlaflosigkeit, negative Gedanken, mangelnde Genussfähigkeit. Solch eine Stimmung kann sich nach einem psychisch schmerzhaften Ereignis oder einer Episode einer Depression entwickeln und jahrelang anhalten. Sie bedarf einer ärztlichen Diagnostik. Eine Umstellung der Lebensbedingungen, der Ernährung, ein Stressabbau, aufbauende Sozialkontakte und vermehrte körperliche Bewegung können über die Verstimmung hinweghelfen. Ob medikamentöse Stimmungsaufheller indiziert sind, ergibt die ärztliche Beratung. Eine Psychotherapie kann helfen, eine solche Phase zu überwinden.

MRI-Befunde

Strukturelle und funktionelle Magnetresonanztomographie (MRT)-Studien zeigen Unterschiede zwischen einer unipolaren und einer bipolaren Störung auf. Während emotionaler, belohnungs- oder kognitionsbezogener Aufgaben wurden unterschiedliche Aktivierungsmuster in neuronalen Netzwerken gefunden (inkl. der Amygdala, des anterioren cingulären Kortex (ACC), des präfrontalen Kortex (PFC) und des Striatum. (15)Prog Neuropsychopharmacol Biol Psychiatry. 2019 Apr 20;91:20-27. doi: 10.1016/j.pnpbp.2018.03.022 Die funktionelle MRI zeigt, dass Personen mit bipolarer Störung stärker emotional beeinflussbar sind. Bei einer unipolaren Depression dagegen waren die depressiven Symptome und neurofunktionellen Reaktionen auf emotionale Reize mit einer reduzierten adaptiven kognitiven Kontrolle emotional orientierter Gehirnregionen assoziiert. (16)Bipolar Disord. 2022 Aug;24(5):474-498. DOI: 10.1111/bdi.13176

Begleitende Erkrankungen

Einige Krankheiten werden gehäuft von zunehmender depressiver Verstimmung (Dysthymie) und einer MDD begleitet, so der Morbus Parkinson und die multiple Sklerose. Hirnorganische Ursachen sind bei einer neu aufgetretenen depressiven Erkrankung immer auszuschließen. Auch an hormonelle Ursachen (Schilddrüsenhormone, weibliche Sexualhormone, Erkrankungen von Hypophyse und Nebenniere) und Stoffwechselstörungen (Diabetes, Arteriosklerose) ist zu denken. Eine Hypercortisolämie (zu hohe Werte von Glukokortikoidhormonen im Blut), wie sie auch beim Morbus Cushing auftritt, sollte erkannt und ihre Ursache diagnostiziert werden. Sie kann das Risiko depressiver Reaktionen und von Suizidalität steigern, was auch bei einer therapeutischen Cortisonzufuhr zu berücksichtigen ist.

Es besteht eine Komorbidität der Depression mit Migräne, mit der jedoch vor allem eine Ängstlichkeit und weniger eine Anhedonie assoziiert ist. (17)J Headache Pain . 2017 Dec;18(1):37. doi: 10.1186/s10194-017-0742-1.

Eine Psoriasis (Schuppenflechte) trägt ein erhöhtes Risiko für eine depressive Gemütslage. Dies wird über eine Entzündungsvermittlung im Rahmen einer Haut-Hirn-Achse erklärt. Sowohl bei einer MDD als auch bei einer Psoriasis sind laut Studien die Werte für CD2+, CD4+, CD8+ T-Lymphozyten erhöht sowie die Achse zwischen Hypothalamus-Hypophyse-Nebenniere gestört und Melatonin erniedrigt. (18)AIMS Neurosci . 2021 Mar 10;8(3):340-354. DOI: 10.3934/Neuroscience.2021018 .

Diagnostik

Die erste Phase einer Depression ist mehrdeutig: sie kann in eine dauerhaft depressive Gemütslage führen, abklingen, abklingen und wiederkehren; oder sie kann eine erste Episode einer bipolaren Störung sein, die später mit manischen Phasen abwechselt.

Die Diagnose einer unipolaren Depression (MDD) stützt sich auf die Kriterien, die unter den Symptomen (s. o.) aufgelistet sind. Zur Diagnostik gehört eine Familienanamnese bezüglich uni- oder bipolaren affektiven Störungen, da in etwa 30% der Fälle eine schwache Heritabilität (Vererblichkeit) nachweisbar ist. Die Eigenanamnese sollte mögliche Auslöser, Stressfaktoren und in geeigneter Weise auch frühe Traumata erfassen, was u. U. für eine geplante psychologische / psychiatrische Therapie von Bedeutung sein kann.

Laboruntersuchungen sind bei einer MDD-Erstdiagnostik hinsichtlich einer Erfassung von somatischen (körperlichen) Erkrankungen erforderlich, die als mögliche Ursachen oder Begleitkrankheiten in Betracht zu ziehen sind (s. o.). Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren, sind speziell zur Differenzialdiagnostik einer hirnorganischen Störung indiziert. Die Basisdiagnostik beinhaltet ebenso ein Screening auf Medikamente und Drogen.


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Therapie

Die Behandlung depressiver Erkrankungen erfolgt auf der Grundlage einer Differenzierung der Verlaufstypen und der Kenntnis der Begleitkrankheiten. Insbesondere sollte bekannt sein, ob es sich um eine unipolare oder bipolare Störung handelt. Die Behandlung einer unipolaren Depression basiert auf

  • einer Psychotherapie,
  • einer medikamentösen Behandlung und auf
  • Zusatzmaßnahmen, wie
    • einer Reduktion von Stress,
    • einer gute Stoffwechseleinstellung bei Insulinresistenz bzw. der Behandlung eines Prädiabetes / Diabetes (19)Psychiatry Res. 2015, 230, 846–852
    • einer diätetischen Einstellung mit Probiotika,
    • einer Reduktion von Lichtmangel und
    • vermehrter körperlicher Bewegung.

Die Behandlung ist langwierig; bereits die Suche nach der individuell angemessenen Medikation kann mehrere Trial-and-Error-Phasen durchlaufen.

Beim Konzept einer Therapie ist das enge persönliche Umfeld, wie die Familie, einzubeziehen. Sie kann sowohl therapeutisch helfen, als auch selbst einer Unterstützung bedürfen. Die Aufgabe, diese Maßnahmen zu koordinieren, kommt den behandelnden Ärzten zu; hilfreich sind Selbsthilfegruppen.

Psychotherapie

Sie soll das Lebensgefühl heben und helfen, die Alltagsanforderungen zu bewältigen, und sie soll vor allem der Entstehung neuerlicher depressiver Phasen vorbeugen. Je nach Richtung des Therapeuten werden unterschiedliche Methoden, z. B. mehr tiefenpsychologische oder mehr verhaltenstherapeutische, angewandt. Voraussetzung ist eine Zugänglichkeit des Patienten. Ist sie nicht mehr gegeben, so ist eine medikamentöse Therapie nicht zu umgehen.

Entspannungsübungen

Entspannungsübungen, z. B. Yoga, sollen Stress abbauen. Der Wirkmechanismus soll eine Steigerung des Vagotonus (Überwiegen des Vagus gegenüber dem Sympathicus) beinhalten. Der Vagotonus beeinflusst die Antwort des Körpers auf Stress, so dass Atemübungen, Meditation und Yoga über seine Erregung einen günstigen Einfluss auf das dopaminerge Übertragungssystem im Gehirn und die Stressverarbeitung des Gehirns ausüben sollen. (20)Front. Psychiatry 9:44. doi: 10.3389/fpsyt.2018.00044 (Zum Einfluss des Vagus siehe auch unten unter Therapie: Vagusstimulation)

Lichttherapie

Bei der saisonal auftretenden Depression, bei der Lichtmangel eine ursächliche Rolle spielen soll, kann eine Lichttherapie günstig wirken. Der Erfolg ist allerdings nicht sehr hoch. Ergebnisse einer Studie besagen, dass ab dem zweiten Jahr eine persönlich zugeschnittene kognitive Verhaltenstherapie um etwa 50% bessere Ergebnisse aufweist. (21)Am J Psychiatry. 2016 Mar 1;173(3):244-51. doi: 10.1176/appi.ajp.2015.15060773. Epub 2015 Nov 5. … Continue reading Die Studienerfahrungen sind allerdings noch gering. (22)Cochrane Database Syst Rev. 2019 May 24;5(5):CD011270. doi:Cochrane Database Syst Rev. 2019 May … Continue reading

Medikamentöse Therapie

Die medikamentöse Therapie stützt sich auf bewährte Antidepressiva, wie trizyklische Antidepressiva (Beispiel Amitryptilin) und Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI; Beispiel Sertalin). Hinzu kommen neuere Mittel, wie duale Wiederaufnahmehemmer (SSNRI; Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin und von Noradrenalin; Beispiel Venlafaxin) und Multirezeptorblocker (Beispiel Quertiapin, eher bei bipolaren Störungen verwendet). Auch das früher viel verwendete Lithium gehört noch zu den Therapieoptionen (es wird eher bei bipolaren Störungen verwendet).

Eine Beurteilung der Wirksamkeit antidepressiver Medikamente ist erst verzögert, oft erst nach einigen (mindestens 4) Wochen möglich. Etwa 1/3 der Patienten kommt bei dem ersten Behandlungsschritt in eine Remission (Symptomfreiheit), 50% nach zwei, 60% nach drei und 70% nach vier Behandlungsschritten. Damit bleiben 30% therapieresistent. Resistenz muss von Pseudoresistenz unterschieden werden, die auf einer zu niedrigen Dosierung der Medikamente beruht. (23)J Exp Pharmacol . 2021 Feb 24;13:181-196. doi: 10.2147/JEP.S259302.

Wegen der individuellen Reaktion auf die Medikamente und wegen der potenziellen Nebenwirkungen, wie Magendarmbeschwerden, Herzbeschwerden, Müdigkeit, Nervosität, speziell bei trizyklischen Arzneimitteln auch anticholinerge Symptome, wie Mundtrockenheit, Verstopfung, Miktionsstörung und Sehstörungen, sowie Erhöhung der Leberwerte sollten anfangs enge Kontrollen durch den behandelnden Arzt erfolgen. Erhöhte Nierenwerte können eine Dosisanpassung erfordern. Ein selbsttätiges plötzliches Absetzen ist wegen möglicher Entzugserscheinungen (z. B. SSRI-Entzugssyndrom) nicht ratsam; vielmehr sollte die Medikation ausgeschlichen werden. Die Nebenwirkungen (unerwünschte Wirkungen) sind bei jedem Medikament etwas unterschiedlich und im Beipackzettel nachzulesen. (24)Curr Neuropharmacol . 2015;13(4):458-65. doi: 10.2174/1570159×1304150831121909.

Melatonin ist ein Hormon des Gehirns, das den Tag-Nacht-Rhythmus (Schlaf-Wachrhytmus) reguliert und die Stimmung beeinflusst. Agomelatin ist ein stabiles Analogon und wirkt auf die Melatoninrezeptoren MT1 und MT2 anregend und auf den Serotonin-2c-Rezeptor hemmend. Es vermag einen gestörten Tag-Nacht-Rhythmus, wie er bei Depression vorkommt, zu restaurieren. Es wird erwartet, dass Studien den im Tierexperiment nachweisbar günstigen antidepressiven Effekt bestätigen. (25)Psychopharmacology (Berl). 2020 Feb;237(2):503-518. DOI: 10.1007/s00213-019-05385-y. Epub 2019 … Continue reading Ein anderes Melatonin-Derivat ist Piromelatin, dessen Wirksamkeit experimentell ebenfalls günstig ist. (26)Cell Mol Neurobiol. 2021 May 18. DOI: 10.1007/s10571-021-01100-8. Epub ahead of print. PMID: … Continue reading

Tiefe Hirnstimulation

Die tiefe Hirnstimulation (Deep Brain Stimulation) hat sich bereits bei der Behandlung therapieresistenter Ausprägungen des Morbus Parkinson und anderer zentralneurologischer Bewegungsstörungen bewährt. Es konnte gezeigt werden, dass auch die therapieresistente Depression auf die elektrische Stimulation anspricht. Wesentlich ist dabei, die richtige Hirnregion zu erregen. Als besonders erfolgversprechend haben sich 6 Hirnregionen herausgestellt: das Cingulum, der Nucleus accumbens, das ventrale Striatum, der ventromediale Bezirk des präfrontalen Cortex (Bereich des Vorderhirns), die laterale Habenula und ein unterer Thalamusbezirk. Die Effekte sind etwas unterschiedlich. (27)Mol Psychiatry . 2018 May;23(5):1094-1112. doi: 10.1038/mp.2018.2. Die Methode der tiefen Hirnstimulation bei therapieresistenter schwerer Depression ist noch nicht in größeren Studien erprobt.

Vagusstimulation

Da der Nervus vagus (gehört zum Parasympathicus) mit seinen überwiegend afferenten (dem Hirn zuführende) Fasern von den thorakalen (im Brustbereich liegenden) und abdominellen (im Bauchbereich liegenden) Organen zu den tiefen Hirnarealen zieht, die mit dem neuronalen Netzwerk für Stimmung und Empfinden zusammenhängen, und da er ein Gegenspieler des Stresssystems des Sympathicus ist, wurde die Methode einer Vagusstimulation für therapeutisch erfolgversprechend angesehen. Die Stimulation kann direkt an einem Nervenast vorgenommen werden (invasiv, implantierbarer Stimulator) oder über die Haut (nichtinvasiv, über Ohrclip) erfolgen. Bei der indirekten Methode wurden Erfolge in etwa 1/3 der Fälle verzeichnet. (28)Neuropsychopharmacology (2001) 25:713. doi:10.1016/S0893-133X(01)00271-8 Die Behandlung verspricht auch Erfolg bei sonst therapieresistenter Depression. (29)Neurotherapeutics (2017) 14:716–27. doi:10.1007/s13311-017-0537-8 (30)Front. Psychiatry 9:44. doi: 10.3389/fpsyt.2018.00044

Probiotika

Probiotika haben sich in mehreren Studien als eine Therapieoption erwiesen, die in der Lage ist, sowohl die Marker für die Entzündungsreaktionen im Körper als auch die depressive Reaktionsbereitschaft zu unterdrücken. In den Studien wurden Lactobazillen und Bifidobakterien verwendet; sie führten innerhalb mehrerer Wochen zu einer signifikanten Verbesserung der verwendeten Depressionsscores. (31)Eur J Neurosci . 2021 Jan;53(1):222-235. doi: 10.1111/ejn.14631. (32)Psychoneuroendocrinology . 2019 Feb;100:213-222. doi: 10.1016/j.psyneuen.2018.10.010 (33)Clin Nutr . 2019 Apr;38(2):522-528. doi: 10.1016/j.clnu.2018.04.010. Interessanterweise kommt die günstige Wirkung der Probiotika auf Gehirn und Depressions- wie auch Angstsymptome im Tierversuch nicht zustande, wenn der Vagusnerv unterbrochen wird. Die Wirkung von Probiotika scheint daher über den Vagus vermittelt zu werden (siehe auch oben). (34)Proc Natl Acad Sci U S A (2011) 108:16050–5. doi:10.1073/pnas.1102999108 (35)Gastroenterology (2011) 141:.e1–3. doi:10.1053/j.gastro.2011.04.052

Körperliche Bewegung

Körperliche Bewegungsübungen verbessern die Symptome einer depressiven Krankheit nur mäßig. (36)Gen Hosp Psychiatry . 2017 Nov;49:2-10. doi: 10.1016/j.genhosppsych.2017.04.012 Allerdings kann ein 8-wöchiges starkes Intervalltraining nicht nur die kardiorespiratorische Fitness, sondern auch den Schlaf bei depressiven Patienten verbessen, zusätzlich auch den verwendeten Score depressiver Symptome. (37)Sleep Breath . 2021 May 27. doi: 10.1007/s11325-021-02388-y

Notfalltherapie

Bei akuter Suizidalität kann eine Sofortintervention in einer Klinik erforderlich werden. Die Einweisung muss u. U. gegen den Willen des/der Betroffenen durchgeführt werden. Akute Eigengefährdung kann eine entsprechende richterliche Anordnung begründen. Für eine Akuttherapie bei Suizidgefahr kommt Ketamin als Infusion in Betracht (s. u.). (38)Am J Psychiatry . 2019 May 1;176(5):401-409. doi: 10.1176/appi.ajp.2018.18070834. Epub 2019 Mar 29.

Verlauf

Grob 30% der Depressionen heilen aus, 20% werden dauerhaft (chronisch) und 50% rezidivieren. (39)Gen Hosp Psychiatry . 2017 Nov;49:2-10. doi: 10.1016/j.genhosppsych.2017.04.012

Im Fall einer unipolaren Störung kann in etwa 30% damit gerechnet werden, dass die erste Episode nach einiger Zeit abklingt und singulär bleibt. In über 2/3 der Fälle jedoch kommt es zu einer oder mehreren weiteren Episoden oder zu einem dauerhaft depressiven Verlauf, sofern keine adäquate Therapie eingeleitet wird.

Eine „rezidivierende depressive Störung“ ist eine Diagnose, die sich ergibt, wenn anamnestisch eine vorangegangene depressive Episode eruierbar ist (s. o.).

Einzelne Erkenntnisse

Veränderungen im Gehirn

Depressive Krankheiten gehen mit Veränderungen im Gehirn einher. Viele Untersuchungen befassen sich mit den zerebralen Grundlagen aus verschiedenen Perspektiven. Es wird vermutet, dass alle Ergebnisse in ein Gesamtbild passen und sowohl die emotionalen, die Motivation betreffenden, die kognitiven und die physiologischen Aspekte miteinander verknüpfen können sollten. Ein Review ist entsprechend betitelt: „Major Depression: One Brain, One Disease, One Set of Intertwined Processes“ Dort wird angemerkt: “Es gibt eine gegenseitige Abhängigkeit aller Strukturen im Gehirn und der verschiedenen Substanzen, die in die Entstehung der Depression einbezogen sind.“ Über sie sollen auch die verschiedenen Subtypen erklärbar sein. Als Beispiel wird angeführt, dass einzelne genetische Mutationen oder epigenetische Alterationen die Funktionalität bestimmter Rezeptoren bezüglich Neurotransmitter oder biologisch aktiver Substanzen verändern können, so dass eine veränderte Stressreaktion und eine veränderte Reagibilität auf Entzündungsreize die Folge wären, was wiederum den Boden für eine depressive Reaktion darstellen könnte. (40)Cells. 2021 May 21;10(6):1283. doi: 10.3390/cells10061283

Hippocampus, Stress und Cortisol

Ganz im Zentrum des Interesses bei der Erforschung der Depression steht das limbische System und in ihm der Hippocampus. Er gehört zu einem Emotionen verarbeitenden neuronalen Netzwerk mit Verbindungen zum präfrontalen Kortex (Vorderhirn) und zum Mandelkern (Amygdala). Er enthält eine hohe Konzentration von Glukokortikoid-Rezeptoren, die durch das Stresshormon Cortisol erregt werden. Der Hippocampus regelt die Aktivität der Hormonachse zwischen Hypothalamus, Hypophyse und Nebenniere. Eine Veränderung der Plastizität der neuronalen Verbindungen im Hippocampus, wie sie durch Stress zustande kommen kann, wirkt sich auf die Funktionalität diese Achse aus. (41)Neural Plast . 2017;2017:6871089. doi: 10.1155/2017/6871089.

In einer Studie an nicht therapierten Patienten mit neu aufgetretener Depression fanden sich auffällige Veränderungen im präfrontalen und insulotemporalen Netzwerk sowie ein signifikant erhöhter Cortisolspiegel im Blut. Die Ergebnisse legen nahe, dass eine Erhöhung des Cortisolspiegels bei depressiver Symptomatik ein Indikator für bereits eingetretene strukturelle Veränderungen im Gehirn sein kann. Da Cortisol ein Stresshormon ist, wird hier auch eine Verbindung mit einer erhöhten Stressbelastung deutlich. (42)Sci Rep . 2020 Dec 16;10(1):22096. doi: 10.1038/s41598-020-79220-2.

Hyperaktive HPA-Achse

Cortisol, eines der wesentlichen Stresshormone, wird bei MDD erhöht gefunden. Es wird in der Nebenniere gebildet. Angeregt wird die Nebenniere dazu von den Hirnanhangsdrüse (Hypophyse), die ihren Befehl dazu wiederum vom Hypothalamus erhält (siehe Das Gehirn). Diese Befehlsachse zwischen Hypothalamus, Hypophyse und Nebenniere wird als HPA-Achse (hypothalamic–pituitary–adrenal) bezeichnet. Sie ist bei chronischer Depression überaktiv.

Als Ursache einer Erhöhung des Kortisolspiegels bei der unipolaren Depression wurde eine Überaktivität der Hypophyse angesehen, die ihre Befehle von speziellen Kerngebieten des Hypothalamus erhält (Nn. supraopticus u. paraventricularis). Es wurde vermutet, dass der Erhöhung eine Fehlfunktion des Glukokortikoidrezeptors zugrunde liegt, wodurch das negative Feedback gestört ist. (43)Transl Psychiatry . 2015 Sep 29;5(9):e649. doi: 10.1038/tp.2015.137. Heute wird primär chronischer Stress dafür verantwortlich gemacht, dass die HPA-Achse dauerhaft hyperaktiv ist. Er verhindert, dass der Glukokortokoidspiegel wieder auf normales Niveau fällt, was wiederrum die Glukokortikoidrezeptoren desensibilisiert, so dass sich der Hyperkortizismus verfestigt. (44)Nat. Rev. Endocrinol. 2013, 9, 670–686

Eine weitere Hypothese besagt, dass erhöhte Entzündungsmediatoren, wie IL-6 (Interleukin-6), die HPA-Achse anregt und zu einer Steigerung der Kortisolproduktion führt. (45)Int J Mol Sci  2020 Mar 22;21(6):2194. doi: 10.3390/ijms21062194.

Neuroplastizität: Ketamin und serotonerge Psychedelika als Antidepressiva

Monoamine, wie Serotonin, Noradrenalin und Dopamin, wirken als Überträgerstoffe (Neurotransmitter) im Gehirn. Ihre Wirksamkeit ist bei der unipolaren Depression vermindert. Die alten Antidepressiva, beginnend mit Imipramin, und die Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wirken sehr verzögert und haben teilweise starke Nebenwirkungen. Die Medikamente beheben ein Serotonin-Defizit, aber offenbar verbessern sie auch die Beweglichkeit der Zellmembranen (Fluidität) und damit die Neuroplastizität. Mit einer Erhöhung der Membranfluidität steigt die Fähigkeit der Nervenzellen, Sekretions- und Absorptionsvorgänge von Transmittern an Synapsen durchzuführen sowie alte Synapsen abzubauen und neue zu bilden.

Ketamin, welches aus der Anästhesie als  Narkotikum und Analgetikum (Besonderheit: Erhalt von Schutzreflexen) gut bekannt ist, steigert, wie Untersuchungen nun ergeben haben, ebenfalls die Neuroplastizität und wirkt zudem antidepressiv. Seine antidepressive Eigenschaft tritt allerdings besonders zuverlässig und rasch ein (46)Am J Psychiatry . 2013 Oct;170(10):1134-42. doi: 10.1176/appi.ajp.2013.13030392. Dies kann in schweren Fällen mit akuter Suizidalität therapeutisch ausgenutzt werden. (47)Am J Psychiatry . 2019 May 1;176(5):401-409. doi: 10.1176/appi.ajp.2018.18070834. Epub 2019 Mar 29. Als Esketamin (ein Enantiomer) ist es für eine solche Indikation zugelassen.

Der neue Fokus der Arzneimittelforschung auf eine Steigerung der Neuroplastizität hat bewirkt, dass auch andere zentral wirkende Substanzen auf diese Wirkung hin geprüft wurden. Ins Zentrum des Interesses gelangten serotonerge Psychedelika, wie LSD (Lysergsäurediäthylamid), Psilocybin oder Mescalin. Für Psilocybin wurde früher bereits nachgewiesen, dass es in der Lage ist, eine therapieresistente Depression zu bessern. Die positiven Auswirkungen auf die Stimmung und das Lebensgefühl halten offenbar lange an. (48)World J Psychiatry . 2021 Jun 19;11(6):201-214. doi: 10.5498/wjp.v11.i6.201. Ein erster Erfolg ist die Entwicklung einer intranasalen Applikation von Ketamin in subanästhetischer Dosierung, welches eine gute antidepressive Wirkung bei tolerablen und vorübergehenden Nebenwirkungen entfaltet. (49)Front Psychol . 2021 Jun 1;12:648691. doi: 10.3389/fpsyg.2021.648691.

Veränderungen im frontolimbischen Netzwerk

Bildgebende Verfahren zeigen, dass im Gehirn von depressiv Erkrankten strukturelle Veränderungen ablaufen. Das Volumen einzelner Hirnareale reduziert sich, so erkennbar am Hippocampus, dem präfrontalen Kortex (Hirnrinde des Vorderhirns), dem anterioren Cingulum, dem Corpus callosum, dem Striatum und dem Mandelkern (Amygdala). (50)Gen Hosp Psychiatry . 2017 Nov;49:2-10. doi: 10.1016/j.genhosppsych.2017.04.012 Die im fMRI erkennbar alterierten Strukturen gehören zu einem Netzwerk, das kognitive und emotionale Prozesse verarbeitet und vermutlich in die Entwicklung depressiver Symptome einbezogen ist. Als Überträgerstoffe dienen ihnen vorwiegend Serotonin und Noradrenalin, deren Übertragungsmechanismen Ziele der meisten Antidepressiva darstellen. (51)Curr Neuropharmacol . 2015;13(4):458-65. doi: 10.2174/1570159×1304150831121909.

Defektes Belohnungssystem

Bei einer Depression vermindert sich oder fehlt der Antrieb, Belohnungen erhalten zu wollen. Die normale Verrechnung von Aufwand und Entschädigung bzw. Belohnung ist gestört. Dies kann als eine für die Entwicklung einer Depression zentrale Fehlsteuerung aufgefasst werden. (52)Int J Mol Sci . 2021 Feb 13;22(4):1867. doi: 10.3390/ijms22041867.

Bildgebende Verfahren (u. a. fMRI) weisen bei der unipolaren Depression Veränderungen in Hirnregionen auf, die dem Belohnungssystem zugrunde liegen. Es handelt sich dabei um ein Netzwerk von Hirnrinde und Striatum, das sich des Dopamins als Neurotransmitter bedient. Seine Funktionalität wird über das Endokannabinoidsystem kontrolliert, dessen Rezeptoren in speziellen Kompartments des Striatums lokalisiert sind. Das System ist durch Stress vulnerabel. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge beleuchtet die Entstehung der Depression neu und hat möglicherweise therapeutische Auswirkungen. (53)Int J Mol Sci . 2021 Feb 13;22(4):1867. doi: 10.3390/ijms22041867.


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