Ethik in der Medizin

Ethik in der Medizin (auch als „Medizinethik“ oder „Medizinische Ethik“ bezeichnet) ist das Teilgebiet der Ethik, das sich mit den Grundlagen sittlichen Verhaltens in der Medizin sowie ihren Wurzeln und Wirkungen in der Gesellschaft befasst.


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Ethik in der Medizin und individuelle Moralvorstellungen

Individuelle Moralvorstellungen werden in der Regel einerseits durch angeborenes menschliches Empfinden und andererseits durch tradierte Vorstellungen im jeweiligen Kulturkreis und die jeweilige Religion bestimmt. Sie sind im Allgemeinen „alltagstauglich“, d. h. eine gute Orientierungshilfe für die Lösung herkömmlicher Probleme. Zur Lösung spezieller Fragen in Sondersituationen reichen sie jedoch oft nicht aus. Sondersituationen, die im normalen Leben keine wesentliche Rolle spielen, finden sich gehäuft in beruflichen Spezialgebieten. Aus ihrer theoretischen Behandlung haben sich in vielen Fällen fachspezifische ethische Gebäude entwickelt, so auch die „Ethik in der Medizin“.

In der Medizinethik werden Lösungen von Fragen diskutiert, die spezifisch in den Fachgebieten der Medizin auftauchen. Sie werden auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit geprüft, und aus ihnen werden Grundsätze entwickelt. Diese werden daraufhin untersucht, ob sie sich auf allgemeine Sitten und Gebräuche des täglichen Lebens zurückführen lassen bzw. mit ihnen vereinbar sind. Letztlich sollen auch sie alltagstaugliche Hilfen bei umstrittenen Entscheidungen oder offener Entscheidungslage darstellen. Wie auch die allgemein anerkannten ethischen Maßstäbe sollen die medizinethischen Grundsätze es einzelnen Menschen erleichtern, einen komplexen Sachverhalt intellektuell zu durchdringen, und es ihnen ermöglichen, in bestimmten Fragen zu einem für sie akzeptablen moralischen Standpunkt zu kommen.

Prinzipien und Themen in der Medizinethik

Generelle Prinzipien

Generelle Prinzipien der Ethik kommen in besonderer Weise in der Medizinethik zum Tragen. Dazu gehören:

  • nicht schaden („primum nil nocere“),
  • wohl tun,
  • gerecht sein,
  • Autonomie achten,
  • verschwiegen sein.

Diese Prinzipien sind schon im Hippokratischen Eid (nach Hippokrates, 460 – 375 v. Chr.) aufgeführt; er galt über Jahrhunderte als Sittenkodex der Ärzte. Auch heute werden seine Grundpfeiler anerkannt. Sie kommen auch in der „Musterberufsordnung für die Deutschen Ärztinnen und Ärzte“ der Bundesärztekammer an zentraler Stelle vor (siehe hier). (1)http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=1.100.1143 (2)BMJ. 1994 Jul 16;309(6948):184-8. DOI: 10.1136/bmj.309.6948.184

Speziell medizinethische Prinzipien

Zu den Prinzipien, die speziell in der Medizinethik auftauchen, gehören zudem:

  • Aufklärungspflicht,
  • Pflicht zur Fortbildung,
  • Pflicht zur Qualitätssicherung,
  • Sorgfaltspflicht.

In Spezialgebieten der Medizin, wie der Reproduktionsmedizin, Geburtshilfe, Pädiatrie, Palliativmedizin oder Intensiv- und Notfallmedizin, gibt es eine Reihe besonderer ethischer Fragen, deren Lösungen z. T. konsensfähig, z. T. aber noch stark umstritten sind.

Aktuelle Themen der Medizinethik

Wichtige aktuelle Themen der Medizinethik sind beispielsweise

Medizinethik und Rechtsphilosophie

Manche Themen der Medizinethik überlappen das Gebiet der Rechtsphilosophie und Rechtsethik weit. So können Ergebnisse der medizinischen Forschung Auswirkungen sowohl auf medizinethische Diskussionen als auch auf die Rechtsprechung haben. Ein immer wieder diskutiertes Thema spiegelt sich in der Frage: Wie ist die Verantwortlichkeit von Straffälligen einzuschätzen, wenn bei ihnen eine genetisch bedingte Stoffwechsel-Anomalie oder eine Veränderung des Überträger-Rezeptor-Systems ihres Gehirns nachgewiesen werden kann, die bestimmte abnorme Verhaltensweisen fördern? (3)J Appl Genet. 2012 Feb;53(1):61-82. DOI: 10.1007/s13353-011-0069-6 Wird dies die Einschätzung der Schuldfähigkeit beeinflussen müssen? (Beispiel hier (4)Int J Law Psychiatry. 2011 Jan-Feb;34(1):20-9. DOI: 10.1016/j.ijlp.2010.11.004 ) Das Thema wird in anderen Artikeln vertieft (siehe beispielsweise hier: “Decriminalizing Mental Illness — The Miami Model“).

Gremien, die sich mit Medizinethik befassen

Es gibt eine Vielzahl von Gremien, die sich inzwischen mit Medizinethik befassen. Hier wird eine Auswahl angeführt.

  • Fachgesellschaften: Zu den großen Themen der Medizinethik erarbeiten die medizinischen Fachgesellschaften ihre Stellungnahmen. Die Deutsche Krebsgesellschaft äußert sich zur palliativen Sedierung am Lebensende (siehe hier). Die Arbeitsgemeinschaft Gastroenterologische Palliativmedizin (AGGP) der DGVS (Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten) befasst sich mit endoskopischen Verfahren der Palliation, so auch mit der PEG-Anlage (Anlage eines direkten Magenzugangs zur Ernährung am Lebensende) (siehe hier).
  • Der Deutsche Ethikrat: Er befasst sich im Auftrag von Bundesrat und Bundestag mit Fragen zur Medizinethik. Zu seinen Zielen gehören „Information der Öffentlichkeit und Förderung der Diskussion in der Gesellschaft unter Einbeziehung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen; Erarbeitung von Stellungnahmen sowie von Empfehlungen für politisches und gesetzgeberisches Handeln; Zusammenarbeit mit nationalen Ethikräten und vergleichbaren Einrichtungen anderer Staaten und internationaler Organisationen“ (siehe hier).
  • Interdisziplinäre Medizinethische Fachgesellschaft: Akademie für Ethik in der Medizin mit überregionalen Arbeitsgruppen (offene Foren), beispielsweise (Stand 2011) zur Ethik am Lebensende, Reproduktionsmedizin und Embryonenschutz, Ethikberatung im Krankenhaus oder Pflege und Ethik.
  • Ethikkomitees in Krankenhäusern. Krankenhäuser gründen zunehmend klinische Ethikkomitees mit eigener Satzung, in denen eigene medizinethische Leitlinien entwickelt werden. Sie sollen beim Umgang mit ethisch schwierigen Situationen zur Hilfe herangezogen werden können. Beispiele „Ethischer Leitlinien“ von Krankenhäusern sind hier veröffentlicht. Wichtige Themen, die in ethischen Leitlinien häufig abgehandelt werden, sind: Umgang mit dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten, Aufklärung, Bluttransfusion bei Zeugen Jehovas, Schwangerschaftsabbruch in höheren Wochen, Begleitung Sterbender, Gewährleistung der Selbstbestimmung des Patienten. Die Ethikkomitees bieten zudem häufig ethische Fallbesprechungen an, die in aktuellen Fällen eines Dissenses innerhalb der Betreuungsteams oder zwischen professionellen Betreuern und Angehörigen die Fakten zusammentragen, die Fragestellung, um die es geht, präzisieren und ggf. mit Hilfe von Leitlinien zu einer einvernehmlichen Lösung führen. Beispiel ist das Nimwegener Modell. Solche Fallbesprechungen haben bei Teilnehmern eine hohe Akzeptanz (siehe hier).
  • Ethikkommissionen. Sie sind unabhängige Gremien, die von Fachgesellschaften, Universitäten oder bestimmten öffentlichen Einrichtungen eingesetzt werden, um die Vertretbarkeit von Untersuchungen zu prüfen. Es sind in den meisten Fällen Studien zur Arzneimittelwirkung und -sicherheit, Studien an Menschen und Studien an Tieren. In die Beurteilungen fließen ethische, juristische und medizinische Aspekte ein. Bezüglich der medizinischen Forschung am Menschen wird die Deklaration von Helsinki 1964 des Weltärztebundes (World Medical Association, WMA) mit ihren Revisionen, so von Seoul 2008 (siehe hier), weitgehend anerkannt.
    • Gesichtspunkte, die bei der Beurteilung von Studien an Menschen Berücksichtigung finden, sind beispielsweise:
      • Die Teilnahme von Probanden muss freiwillig und in Kenntnis von möglichem Nutzen und Risiken erfolgen.
      • Der Arzt muss eine der Untersuchung angemessene Ausbildung vorweisen und sich eingehend in der einschlägigen Literatur informiert haben.
      • Auswirkungen auf die körperliche und geistige Unversehrtheit müssen so gering wie möglich gehalten werden.
      • Die Privatsphäre und die Vertraulichkeit müssen geschützt bleiben.
      • Die Finanzierung muss transparent sein; die Forscher müssen Unabhängigkeit gewährleisten.
      • Der Einsatz von Placebo ist zu minimieren (was in den USA weitgehend auf Ablehnung stößt, siehe hier)

Verweise

 


Autor der Seite ist Prof. Dr. Hans-Peter Buscher (siehe Impressum).


 

Literatur[+]