Das Gehirn (Cerebrum) ist das zentrale Steuerungsorgan des Körpers und Sitz von Geist und Seele. Seine Komplexität ist Grund dafür, dass es derzeit nur unzureichend begriffen werden kann. Viele Forscher glauben, dass das Gehirn sich prinzipiell nicht völlig selbst verstehen können wird. Dennoch haben die Forschungen von morphologischer, biochemischer, genetischer und physiologischer ebenso wie von psychologischer, soziologischer und spiritueller Seite her bedeutende Fortschritte ergeben und spektakuläre Erkenntnisse zutage gefördert. Hier werden einige Aspekte dargestellt.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Das Organ
- 2 Schutz des Gehirns
- 3 Organisation, Einteilung
- 4 Spiegelneurone – Spiegelmechanismus
- 5 Die Blutversorgung des Gehirns
- 6 Neurotransmitter
- 7 Darm und Gehirn
- 8 Krankheiten des Gehirns
- 9 Pränatales Zeitfenster bestimmt spätere Hirnfunktion
- 10 Postnatales Zeitfenster beeinflusst die Sozialisation
- 11 Brain Decoding
- 12 Verweise
Das Organ
Da Gehirn besteht aus 1,3 kg Gehirnmasse, in der sich 100 Milliarden Neurone (Nervenzellen), sowie die zwischen ihnen verlaufenden Nervenbahnen und die unterstützenden Gliazellen befinden. Es macht 2 % unseres gesamten Körpergewichts aus, verbraucht aber 25 % des Sauerstoffs und 20 % des Blutzuckers, den der Körper bereitstellt. Der Zuckerhaushalt wird durch das Gehirn über seinen Hypothalamus reguliert. indem es die Nahrungsaufnahme, den Energieverbrauch, die Insulinsekretion sowie die Leberfunktion beeinflusst. Damit reguliert es den gesamten Energiestoffwechsel des Körpers.
Die Bereiche, in denen Nervenzellen eng zusammen liegen, wird als graue Substanz bezeichnet. Unter diesem Begriff wird speziell die Schicht der Oberfläche des Großhirns, die Großhirnrinde, verstanden, obgleich auch die Hirnkerne im Inneren des Gehirns wegen der Akkumulation der dortigen Neurone grauer erscheinen als die benachbarte weiße Substanz der Leitungsbahnen. Das Gehirn wird von Gehirnwasser (Liquor) umgeben, das mit den Liquorräumen innerhalb des Gehirns kommuniziert. Die inneren Liquorräume bilden das Ventrikelsystem mit seiner Ependymauskleidung und dem Plexus chorioideus, der den Liquor bildet.
Makroskopischer Aufbau
Makroskopisch besteht das Gehirn aus der grauen und der weißen Substanz. Die graue Substanz enthält im Wesentlichen die informationsverarbeitenden Zellen des Gehirns (Neurone) und befindet sich größtenteils in der Hirnrinde, aber auch in den innen gelegenen Hirnkernen. Die weiße Substanz enthält die Nervenleitungsbahnen, welche die verschiedenen Gehirnbezirke miteinander verbinden.
Mikroskopischer Aufbau
Mikroskopisch lassen sich nur beschränkt wenige Zelltypen des Gehirns unterscheiden, die jedoch eine große Zahl von Funktionen erfüllen:
- Neurone: Jede Nervenzelle (Neuron) besitzt eine außerordentlich hohe Kommunikationsdichte mit anderen Nervenzellen. Über viele lange Nervenzellfortsätze, die Neuriten, zu denen kurze Fortsätze (Dendriten) und einige lange Fortsätze (Neuriten; zusammen mit ihren von den Gliazellen stammenden Nervenscheiden: Axone) gehören, stehen sie in Kontakt mit anderen Nervenzellen. Die Kontaktstellen, die als Synapsen bezeichnet werden, vermitteln über ihre dort ankommenden Erregungen und Mediatoren Informationseinheiten an andere Neurone; sie können im kooperierenden Neuron eine Erregung hervorrufen oder eine Hemmung. Jedes Neuron besitzt – je nach Lokalisation und Aufgabe – bis zu mehrere Tausend solcher Synapsen.
- Astro-, Mikro- und Oligodendroglia: Neben den eigentlichen Neuronen existieren weitere Zelltypen im Gehirn, die für seine Reifung, seine Funktionen, seine Ernährung, die Abwehr von Gefahren (Bakterien, Viren) und den Abraum von Abfallprodukten unerlässlich sind. Es sind die Astroglia, bestehend aus den Astrozyten, die Mikroglia, bestehend aus Zellen verschiedener Funktionalität, und die Oligodendroglia, bestehend aus Oligodendrozyten, Zellen, die die Umscheidungen der langen Nervenausläufer bilden.
Die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns ist nicht allein von seiner Größe abhängig, denn die weniger leistungsfähigen Gehirne der Wale oder Elefanten können das menschliche Gehirn von der Größe übertreffen sowie auch von der Dicke der grauen Substanz der Großhirnrinde und der Packungsdichte der Nervenzellen in ihr. Zudem spielt die Geschwindigkeit der Erregungsleitung der langen Nervenausläufer (Axone) eine Rolle, die wiederum von den Nervenscheiden, die beim Menschen besonders dick sind, bestimmt wird. Auch die Organisation des Gehirns ist von Bedeutung. Sie ist bei höheren Affenarten ähnlich, weicht aber in einem wesentlichen Punkt ab: Beim Menschen existiert eine spezielle Windung, das Broca´sche Sprachzentrum, während es die Windung für das Sprachverständnis, das Wernicke´sche Sprachzentrum, auch bei höheren Tieren bereits gibt und für das Verstehen von Lautäußerungen zuständig ist. Das Broca-Zentrum ermöglicht die komplexe Syntax der Sprache mit ihrer Grammatik, die wesentlich zur menschlichen Intelligenz beiträgt.
Die Tätigkeit des Gehirns ist sehr energieaufwändig. Die Energieversorgung basiert auf einer hohen Blutversorgung (s. u.), welche die Zufuhr von ausreichend Sauerstoff und Glukose gewährleistet. Glukose (Traubenzucker) ist die einzige Energiequelle für das Gehirn. Sowohl Sauerstoffmangel als auch eine Unterzuckerung führen daher rasch zur Bewusstlosigkeit. Eine Unterbrechung eines Teils der Blutversorgung führt zum Ausfall eines Hirnteils mit dem klinischen Bild eines Schlaganfalls.
Schutz des Gehirns
Das Gehirn liegt in der knöchernen Schädelkalotte geschützt vor alltäglichen mechanischen Einwirkungen. Die Einkapselung hat jedoch den Nachteil, dass eine Raumforderung im Gehirn durch eine entzündliche Schwellung oder einen Tumor zu einem gefährlichen Anstieg des intrakraniellen Drucks (Druck in der Schädelkapsel) führt.
Blut-Hirn-Schranke: Das Gehirn ist vor unkontrollierten toxischen Einflüssen aus dem Blut durch eine besondere Abdichtung zwischen dem Blutgefäßsystem und den Hirnzellen weitgehend gesichert. Diese „Blut-Hirn-Schranke“ verhindert auch das Eindringen mancher Medikamente in die Hirnsubstanz. Viele Antibiotika können nur ins Gehirn gelangen, wenn die Blut-Hirn-Schranke undicht wird, was im Rahmen einer Hirnhautentzündung (Meningitis) oder einer Gehirnentzündung (Enzephalitis) eintritt.
Neuroprotektion: Es gibt im Gehirn neuroprotektive Mechanismen; dies sind Schutzmechanismen, die einen erhöhten Abbau von Nervenzellen verhindern. Forschungen zur Neuroprotektion zeigen eine Reihe solcher Mechanismen auf, die perspektivisch möglicherweise medikamentös gestärkt werden können. Eines der Schutzmoleküle ist Neuromelanin, das in der Substancia nigra vorkommt und bei Abbauprozessen im Rahmen eines Morbus Parkinson schwindet. Weiteres siehe hier. Ein anderes ist Neuritin, das die Flexibitität des Denkens und das Gedächtnis fördert (dazu siehe hier).
Umordnung synaptischer Verbindungen: Zur Aufrechterhaltung der Hirnfunktionen gehört es, dass ständig Synapsen, die ihre Funktion aufgegeben haben, abgebaut und entsorgt werden, und dass sich neue Synapsen bilden. Astrozyten übernehmen sowohl die Abraumfunktion als auch die Förderung der Bildung neuer Synapsen. Sie stimulieren auch die Bildung von Schwann’schen Scheiden der Axone und tragen zur Geschwindigkeit der Informationsweiterleitung und -verarbeitung wesentlich bei. Dies erfolgt unter der modulierenden Wirkung von Neuritin, das so in vielfältiger Weise neuroprotektiv wirkt. Fällt die Neuritinproduktion ab, kommt es zur Entwicklung einer Demenz oder einer Neuropathie. (Siehe hier.)
Neuroregeneration: Eine Nachbildung von zugrunde gegangenen Gehirnzellen ist bis auf Ausnahmen nicht möglich. Eine solche Ausnahme stellt der Nucleus hippocampus (kurz Hippocampus, s. u.) dar, bei dem eine Neuroregeneration (Nachbildung von Nervenzellen) festgestellt werden kann. Neuritin fördert eine solche Nachbildung. Der Hippocampus ist eine wesentliche Schaltstelle für das Gedächtnis. (1)Prog Neurobiol. 2016 Mar-May;138-140:1-18. DOI: 10.1016/j.pneurobio.2015.12.006. Die Mechanismen zur Regeneration sind selbst im Alter noch wirksam. Bei Affen nimmt die Regenerationsfähigkeit der Hirnzellen in allen Gehirnbezirken ab. Das ist beim Menschen nicht in gleichem Maße der Fall. Gesunde ältere Personen ohne kognitive Beeinträchtigung oder neuropsychiatrische Erkrankung behalten weitgehend ihre Fähigkeit, Hirnzellen im Hippocampus nachzubilden, vor allem im posterioren dentaten Gyrus. Untersucher fanden Zehntausende neuer Zellen dort, wo Gedächtnisinhalte verarbeitet werden. Dies erklärt, dass eine hohe kognitiv-emotionale Widerstandsfähigkeit über die späten Lebensjahre aufrecht erhalten werden kann. (2)Stemm Cells Volume 22, ISSUE 4, P589-599.e5, April 05, 2018 … Continue reading (3)Science 29 March 2019 Vol 363, Issue 6434 doi … Continue reading
Organisation, Einteilung
Das Gehirn lässt sich in verschiedene Abschnitte und Strukturen unterscheiden, die ganz unterschiedliche Aufgaben erfüllen:
- Das Stammhirn: Das Stammhirn ist der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil, in dem auch die Funktionen ablaufen, die schon in den frühesten Entwicklungsstufen erforderlich waren. Es besteht aus folgenden Abschnitten:
- Das Mittelhirn (Mesencephalon): Zum Mittelhirn gehören
- der rote Kern (Nucleus ruber: Funktion im extrapyramidalmotorischen System) und
- die schwarze Substanz (Substancia nigra: Funktion im extrapyramidalmotorischen System, Starterfunktion von Bewegungen, Funktion beim Lernen; Dopamin als überwiegende Überträgersubstanz; Verlust der dopaminergen Zellen und des dort schützenden Neuromelanins beim Morbus Parkinson).
- Die Brücke (Pons): Kreuzung und Umschaltstation (Brückenkerne) der Nervenverbindung zwischen Großhirn und Kleinhirn.
- Das verlängerte Rückenmark (Medulla oblongata): Hier liegen entwicklungsgeschichtlich sehr alte Kerne, die Funktionen bei der Atmung (Atemzentrum), der Blutkreislauf (Kreislaufzentrum), beim Saugen, Schlucken, Würgen und Erbrechen erfüllen.
- Das Mittelhirn (Mesencephalon): Zum Mittelhirn gehören
- Das Zwischenhirn: Das Zwischenhirn liegt zwischen Stammhirn und Großhirn. Es enthält viele Einzelansammlungen von Neuronen (Kerne), die Funktionen in der Regulation von Kreislauf (mit Blutdruck, Herzaktion), Temperatur, Hunger und Fortpflanzungsverhalten erfüllen. Große Kerngebiete sind der Thalamus und der Hypothalamus.
- Der Thalamus ist eine große Umschaltstation von Nerven mit ankommenden Informationen (Afferenzen), die anschließend zur Großhirnrinde weitergeleitet und dort ins Bewusstsein gebracht werden („Tor zum Bewusstsein“).
- Der Hypothalamus setzt sich direkt in die Hypophyse fort. Der Hypophysenhinterlappen gehört noch zum Hypothalamus; er hat eine direkte Verbindung zum Nucleus supraopticus und Nucleus paraventricularis, die Hormonvorstufen produzieren (Beispiel Vasopressin-Vorstufen). Der Hypothalamus enthält eine Reihe von Kerngebieten (Nuclei), die unterschiedlichste Funktionen erfüllen, so z. B. die Regulierung unterbewusster Körperfunktionen (wie Temperatur, Blutdruck, Hungergefühl und Wasser- und Elektrolythaushalt) über das vegetative Nervensystem, Anregung von Hormondrüsen (so der Schilddrüse und der Hypophyse). In der Hypophyse werden Adiuretin (ADH), Oxytocin und Neuropeptid Y (NPY, steigert das Hungergefühl) produziert, gespeichert und bei Bedarf freigesetzt. Releasing-Hormone beeinflussen den Hypophysenvorderlappen, der eine zentrale Bedeutung für das Hormonsystem des Körpers hat (Anregung der Bildung der Nebennierenrindenhormone und der Geschlechtshormone, siehe hier).
- Das Großhirn: Das Großhirn der Säugetiere ist Träger der entwicklungsgeschichtlich jüngeren und “höheren” Funktionen des Gehirns; beim menschlichen Gehirn hat es zusätzlich die Grundlagen für die Sprachfähigkeit ausgebildet. Es besteht aus verschiedenen Teilen:
-
- aus alten Teilen, zu denen das limbische System (mit u. a. Hippocampus und den Mandelkernen (Amygdalae) ) gehört, das in der Nachbarschaft zum Thalamus gelegen ist;
- der Hippocampus, zum Temporallappen (s. u.) gehörig, übt Gedächtnisfunktionen (besonders im Kurzzeitgedächtnis) aus, hat eine Aufgabe bei der Erstellung von Lageplänen (inneren Landkarten) und scheint über seine Verbindung zum Riechhirn (Bulbus olfactorius) mitzubestimmen, wen man “riechen” kann, also sympathisch oder unsympathisch findet; Auslösung und Verarbeitung von Emotionen,
- die Amygdala (der Mandelkern) gehört zum limbischen System und vermittelt das Empfinden von Gefahr. Es schützt den Organismus davor, sich in gefährliche oder potentiell lebensbedrohliche Situationen zu begeben;
- aus alten Teilen, zu denen das limbische System (mit u. a. Hippocampus und den Mandelkernen (Amygdalae) ) gehört, das in der Nachbarschaft zum Thalamus gelegen ist;
- aus neuen Teilen, dem Neocortex mit der Hirnrinde, das die höheren und entwicklungsgeschichtlich neueren Funktionen des Gehirns erfüllt (wie Denken, Sprechen und Sprachverständnis, Fühlen, Assoziationen, Abstraktionen, große Teile der Lernfähigkeit und des Gedächtnisses, Planen, soziale Funktionen etc). Der Neocortex (“das Großhirn”) besteht aus 2 Hemisphären (rechte und linke Hirnhälfte), die über den Balken miteinander verbunden sind (Delphine haben keinen Balken). Das Großhirn besteht aus einer grauen Substanz, die außen liegt und die Hirnrinde (Kortex) mit ihren Nervenzellen (Neuronen) darstellt, sowie aus der innen gelegenen weißen Substanz, die die großen Nervenbahnen beherbergt. Die Großhirnrinde verläuft in vielen Windungen und Falten (Gyri), die zur Vergrößerung des Oberflächenareals für die graue Substanz dienen. Sie lässt sich anatomisch in verschiedene Abschnitte einteilen (jeweils rechts und links):
- Der Stirnlappen (Stirnlappen, Lobus frontalis): Aufgaben bei Initiative, Moralvorstellungen, sozialen Hemmungen, Religiosität.
- Der Scheitellappen (Parietallappen, Lobus parietalis): Aufgaben beim Langzeit-Erinnerungsvermögen, Raumempfinden und räumlichem Denken, Rechnen.
- Der Schläfenlappen (Temporallappen, Lobus temporalis): Hörzentrum; Funktionen bei der Sprache bzw. der Konzeption von Sätzen (Wernicke Sprachzentrum);
- Hippocampus: ein in der Tiefe gelegener alter Teil des Schläfenlappens, gehört zum limbischen System (s. o.).
- Die Insel (Cortex insularis): in der Tiefe der Fissur, die den Temporallappen vom Parietal- und Frontallappen trennt: ist befasst mit Bewusstsein, auch mit Selbstbewusstsein, und Emotionen.
- Der Hinterhauptslappen (Okzipitallappen, Lobus occipitalis): Er enthält das Sehzentrum mit dem direkt anschließenden visuellen Assoziationszentrum. Es ist räumlich vom Kleinhirn durch ein Septum (Tentorium cerebelli) abgegrenzt.
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- Das Kleinhirn (Cerebellum): Das Kleinhirn sitzt auf dem Stammhirn in Höhe der Brücke und der Medulla oblongata. Es übernimmt Aufgaben bei der Motorik und ihrer Koordination. Eine neu entdeckte Verbindung zwischen Kleinhirn und Amygdala erklärt seine Bedeutung auch für die Bildung / Verarbeitung von Emotionen. (4)Front Syst Neurosci. 2022 May 13;16:879634. DOI: 10.3389/fnsys.2022.879634
Spiegelneurone – Spiegelmechanismus
Spiegelneurone (mirror neurons, MNs) sind spezielle Zellen des zentralen Nervensystems, die ein Verständnis von menschlichem Verhalten ermöglichen und auf emotionsgeladene Signale ansprechen. Sie wurden MNs 1992 in Affen entdeckt und 1996 als Basis einer Aktionserkennung in der prämotorischen Hirnrinde identifiziert, die visuell getriggert werden. (5)Brain. 1996 Apr;119 ( Pt 2):593-609. DOI: 10.1093/brain/119.2.593. Ihre Funktion hat entscheidende Auswirkungen auf das Sozialverhalten. MNs sind Grundlage für ein Verständnis des Ausdrucks und der Handlungen anderer Menschen: Nachahmung, Empathie, Sprachverständnis, Sprachbildung, Wortwiederholungen und nachahmende Rede (Mimesis). Eine Fehlfunktion wird mit Alexithymie (Gefühlskälte), Autismus, posttraumatischer Belastungsstörung und Schizophrenie in Verbindung gebracht. (6)Perspect Psychol Sci. 2022 Jan;17(1):153-168. doi: 10.1177/1745691621990638.
Populationen von MNs repräsentieren nach heutiger Auffassung ganze Verhaltenssequenzen (aus Bewegung und Nichtbewegung). (7)J Neurosci. 2018 May 2;38(18):4441-4455. DOI: 10.1523/JNEUROSCI.3481-17.2018. Eine Vielzahl von Zelltypen mehrerer motorischer, sensorischer und emotionaler Gehirnbereiche bildet einen hypothetischen komplexeren „Spiegelmechanismus“, der Grundlage für die verschiedenen sozialen Verhaltensweisen darstellt. (8)Trends Cogn Sci. 2022 Sep;26(9):767-781. DOI: 10.1016/j.tics.2022.06.003 In Tierversuchen wurden beispielsweise Neurone des Hypothalamus mit der Funktion einer Aggressionsspiegelung gefunden, die das Verhalten in entsprechenden Situationen beeinflussen. (9)Cell. 2023 Feb 7:S0092-8674(23)00052-1. DOI: 10.1016/j.cell.2023.01.022. Neurone des vorderen Cingulums und des Inselkortex sind (bei Ratten) in die Fähigkeit zum Mitgefühl von Schmerz eingebunden, wobei auch Anti-MNs eine Rolle spielen. (10)iScience. 2022 Dec 23;26(1):105865. DOI: 10.1016/j.isci.2022.105865.
Die Blutversorgung des Gehirns
Das Gehirn benötigt wegen seines exzessiven Sauerstoffbedarfs eine starke Durchblutung. Sie erfordert etwa 20% der Herzauswurfleistung und wird durch 4 großlumige Arterien gewährleistet. Sie ist wegen der zentralen Bedeutung des Gehirns für den Körper durch Kommunikationen untereinander abgesichert. Die großen Blutgefäße, die das Gehirn versorgen, entstammen der rechten und linken Arteria carotis interna (innere Halsschlagadern) und der rechten und linken Arteria vertebralis (ziehen im Bereich der Halswirbelsäule in die hintere Schädelgrube). Die Gefäße verlaufen an der Hirnbasis und treffen sich an einem arteriellen Ring, dem Circulus arteriosus Willisii, der den Hypophysenstiel umfasst. Damit ist weitgehend gewährleistet, dass eine krankhafte Unterbrechung an einer Stelle durch den Zufluss aus der anderen Richtung kompensiert werden kann.
Neurotransmitter
Im Gehirn fördern verschiedene Neurotransmitter die Erregungsausbreitung bzw. Erregungshemmung zwischen kooperierenden Neuronen. Zu ihnen gehören u. a. Dopamin, Noradrenalin, Serotonin, Glutamat, Neurotensin und Oxitocin. Sie werden an Synapsen freigesetzt und von spezifischen Rezeptoren der benachbarten Nervenzellen (oder in der Peripherie von Drüsenzellen oder Muskelzellen) angenommen, und als Information für eine spezifische Aktion verwertet. Eine Fehlfunktion dieses Transmittersystems ist Ursache vieler neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen. Medikamente, die in das Neurotransmittersystem eingreifen, können vielfach die Symptomatik dieser Krankheiten mildern (z. B. L-Dopa beim Morbus Parkinson oder Ritalin beim ADHS). Andere Substanzen, die dort angreifen, wirken als Drogen. Sie können bei unkontrollierter Anwendung zu Hirnschäden und fatalen Auswirkungen auf die Persönlichkeit und die soziale Einbindung des / der Betreffenden führen. Zu Neurotransmittern siehe hier.
GABA (Gamma-Aminobuttersäure) gilt als der Transmitter, der für hemmende Wirkungen verantwortlich ist. Am GABA-Rezeptor greifen eine Reihe von Psychopharmaka an, die gegen Depression und Angstzustände gerichtet sind. Fehlfunktionen der GABA-Rezeptoren werden mit Autismus, Epilepsie und Angststörungen in Verbindung gebracht. (11)Neuron 2015; 86:1119-1130
Darm und Gehirn
Der Darm besitzt ein eigenes ausgeprägtes Nervengeflecht, welches auch als “Gehirn des Darms” bezeichnet wird (Plexus myentericus Auerbach und Plexus submukosus Meissner) und die Bewegungen seiner Wand sowie seine sekretorischen und resorptiven Funktionen regelt. Es ist über das vegetative Nervensystem eng mit dem Gehirn verbunden. Efferente und afferente Fasern leiten sowohl Befehle an den Darm weiter als auch Befindlichkeiten des Gastrointestinums (Magendarmtrakt) ans Gehirn. So wirken sich Völlegefühl und Übelkeit auf Hunger und Appetit aus wie auch umgekehrt. Darmbefindlichkeiten beeinflussen darüber hinaus die Psyche und vice versa. Eine ähnliche Verbindung besteht auch zu Zentren, die das Immunsystem beeinflussen.
Gut-brain-Achse
Zentrale Mitspieler sind Darmbakterien, deren Stoffwechselprodukte auf vielfältige Weise über die “gut-brain-Axis” das Gehirn beeinflussen. (12)Microbiome. 2021 Oct 26;9(1):210. DOI: 10.1186/s40168-021-01165-z Beispielsweise löst ein bakterielles Abbauprodukt der Aminosäure Tyrosin (4-ethylphenol, 4EP) bei Mäusen ängstliches Verhalten aus. 4EP bewirkt eine Schwächung spezieller Zellen im Gehirn (der Oligodendrozyten), welche die Nervenscheiden der Nervenausläufer von Hirnzellen bilden (Myelinisierung der Axone). Damit veränderte sich die funktionelle Konnektivität im Gehirn. Das Mikrobiom des Darms vermag damit über ein definiertes Stoffwechselprodukt komplexes Verhalten zu beeinflussen. (13)Nature . 2022 Feb 14. doi: 10.1038/s41586-022-04396-8
Eine Störung der “Microbiota-Brain-Gut-Achse” (wesentlicher Teil des “host-microbiota cross-talks”) ist an der Entstehung neurodegenerativer Erkrankungen, wie dem Morbus Parkinson und dem Morbus Alzheimer, beteiligt (14)Curr Neurol Neurosci Rep. 2017 Oct 17;17(12):94. DOI: 10.1007/s11910-017-0802-6 PMID: 29039142. (15)Int J Mol Sci. 2020 Jun 5;21(11):4045. DOI: 10.3390/ijms21114045. PMID: 32516966; PMCID: … Continue reading und beeinflusst die Entstehung und Unterhaltung einer Depression. (16)Front Neurol. 2021 Sep 28;12:721126. DOI: 10.3389/fneur.2021.721126.
Krankheiten des Gehirns
Krankheiten des Gehirns implizieren immer die Gefahr einer Veränderung der Persönlichkeit, des Charakters, der Vollständigkeit der Körperempfindung, der Erfahrungswelt oder der Möglichkeiten einer aktiven Beeinflussung der Umwelt eines Menschen. Eine diffuse Funktionsstörung wird als Enzephalopathie bezeichnet. Sie kann vielfältige Ursachen haben. (Siehe dazu auch Gehirn und Intelligenz und Gehirn und Emotionen.)
Krankheiten
Wesentliche Krankheitsbilder, die mit dem Risiko einer Wesensveränderung behaftet sind, sind:
- entzündliche Erkrankungen des Gehirns (z. B. Enzephalitis durch Viren, Bakterien oder Pilze, Hirnabszess),
- Durchblutungsstörungen des Gehirns wie Schlaganfall oder Gefäßerkrankungen (z. B. im Rahmen eines Lupus erythematodes),
- Tumorerkrankungen des Gehirns mit Zerstörung oder Verdrängung normalen Hirngewebes,
- degenerative Hirnerkrankungen wie Morbus Parkinson, multiple Sklerose (MS) oder die Alzheimer Krankheit,
- toxische Hirnschädigung, z. B. chronische Alkoholeinwirkung,
- Hirnkrankheiten wegen veränderter Konnektivität, z. B. Autismus, Schizophrenie.
Funktionsstörungen
Das Gehirn kann bei Stoffwechselveränderungen mit Funktionsstörungen reagieren, die prinzipiell reversibel sind. Beispiele sind Fehlfunktionen bei Sauerstoffmangel, Hypoglykämie, Vitamin B6-Mangel, Elektrolytstörungen oder Fieber.
- Eine Unterzuckerung (Hypoglykämie), wie sie beim Insulinom oder bei zu straff eingestellten Diabetikern auftreten kann, kann zu einer tiefgreifenden Persönlichkeitsstörung führen (Aggressivität, Schizophrenie-artiges Verhalten etc.). Ein zu hoher Ammoniakspiegel (Hyperammoniämie) im Rahmen einer Leberzirrhose (hepatische Enzephalopathie) kann zu einer Enzephalopathie mit Rechenstörungen, Orientierungsstörungen und Bewegungsstörungen führen.
- Ein Vitamin-B6-Mangel kann verschiedenartige neurologische Symptome (inkl. einer Neugeborenen-Epilepsie) hervorrufen.
- Ausgeprägte Elektrolytstörungen,
- bei starker Exsikkose (Austrocknung des Körpers): psychomotorische Störungen, Aufmerksamkeitsmangel (17)J Am Coll Nutr. 2012 Apr;31(2):71-8. doi: 10.1080/07315724.2012.10720011,
- Hyperkalzämie: Lethargie und Verwirrtheit (18)J Emerg Med. 2018 Nov;55(5):688-692. doi: 10.1016/j.jemermed.2018.07.018
- bei hohem Fieber, das besonders bei Kindern zu Fieberkrämpfen führen kann,
- bei einer Hirnschwellung (Hirndruck) durch hohes Fieber oder durch starke Sonneneinwirkung (Sonnenstich, Hitzschlag): Somnolenz, Koma.
Pränatales Zeitfenster bestimmt spätere Hirnfunktion
In einem Zeitfenster weniger Tage vor der Geburt wirkt sich ein zu niedriger Spiegel an mütterlichem Schilddrüsenhormon auf die spätere Intelligenz und das Risiko einer Epilepsie aus. Es bilden sich “ektope” Hirnzellen im Corpus callosum. Eine Ursache eines gering erniedrigten mütterlichen Spiegels an Schilddrüsenhormonen wird Umweltgiften zugeschrieben. (19)Sci Rep. 2019 Mar 15;9(1):4662. doi: 10.1038/s41598-019-40249-7. (20)Toxicol Sci. 2018 May 1;163(1):101-115. doi: 10.1093/toxsci/kfy016.
Postnatales Zeitfenster beeinflusst die Sozialisation
Untersuchungen an Heimkindern haben ergeben, dass eine mangelnde enge Beziehung in einer sehr frühen postnatalen Entwicklungsperiode zu einer lang dauernden Mangelfunktionalität des Gehirns führt. Es werden sensitive Perioden angenommen, die für die Entwicklung des visuellen und auditorischen Systems entscheidend sind und damit später auch für die höher differenzierten Funktionen von Sprache und Empfinden. Ist dieses Zeitfenster geschlossen, lassen sich die für die Sozialisation erforderlichen Hirnfunktionen durch Erfahrung und Erziehung nur noch in deutlich geringerem Umfang als bei sich normal entwickelnden Kindern trainieren. Die sensitiven Perioden (SP) legen die Grundlagen für die Entwicklung der “executive functions” (EF), die über die gesamte Jugend und vielleicht in reduziertem Maß darüber hinaus trainiert werden. EFs dehnen sich dabei über weitere Gehirnbezirke, speziell auf den präfrontalen Cortex (Teil des Stirnlappens) aus. Für die Entwicklung von Emotionen und von Sprache wurden keine eigenen SPs gefunden; alle unterscheidbaren EFs scheinen eng mit den SPs für Hören und Sehen verbunden zu sein. Ihre Entwicklung wird gefördert von der Erreichbarbeit bzw. dem Angebot z. B. von Büchern und Spielzeug und der Komplexität der gehörten Sprache. Alles dies ermöglicht es dem Kind, mit der Umwelt zurecht zu kommen. (21)Curr Opin Behav Sci. 2020 Dec; 36: 98–105. doi: 10.1016/j.cobeha.2020.08.001
Der Beginn der sensitiven Perioden ist verbunden mit dem Auftreten von Nervenverbindungen, die hemmende Funktionen ausüben und GABAerg sind. GABA (Gamma-Aminobuttersäure) ist der Hauptüberträgerstoff für hemmende Synapsen (von Parvalbuminzellen, PV). Es stellt sich ein Gleichgewicht von exzitatorischen (anregenden) und hemmeden Prozessen ein. Dieser Entwicklungsprozess ist charakteristisch für die “kritische Periode” (CP) der Hirnentwicklung. Die Fragen, was diese Periode öffnet, offen hält und schließt, und was es eventuell ermöglicht, solch eine Periode wieder zu eröffnen, bestimmt einen neuen Zweig der Hirnforschung. (22)Annu Rev Psychol. 2015 Jan 3;66:173-96. DOI: 10.1146/annurev-psych-010814-015104. Epub 2014 Sep … Continue reading
Brain Decoding
Hochauflösende Hirnstromableitungen (EEG) ermöglichen eine Dekodierung von Informationen, die als elektrische Signale während eines mentalen Zustandes auf der Hirnoberfläche erscheinen. Sprache lässt sich bereits mit hoher Genauigkeit aus EEG-Messdaten herauslesen. (23)Sci Rep. 2023 Jan 16;13(1):812. DOI: 10.1038/s41598-022-27332-2 Auch Bilder und Musik werden erkennbar dekodiert, selbst gedanklich aufgerufene Bilder. Noch erstaunlicher: es lassen sich Hirnaktivitäten messen und dekodieren, bis zu 7 Sekunden bevor eine bewusste Entscheidung getroffen wird. Das Gehirn bereitet Entscheidungen vor und informiert das Bewusstsein erst später über das Ergebnis. (24)Youtube: Mind reading
Es wird eine Entwicklung vorausgesehen, die miniaturisiert als tragbarer Helm breite Verwendung finden und die erhebliche ethische Probleme mit sich bringen können. Es wird für möglich gehalten, dass perspektivisch auch geheime Gedanken ausgelesen werden können. (25)Sci Rep. 2023 Jan 12;13(1):624. doi: 10.1038/s41598-022-27361-x (26)Youtube: Speech synthesis (27)Youtube: Brain decoding
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Verweise
- Bewusstsein und Gehirn
- Intelligenz und Gehirn
- Emotionen und Gehirn
- Intelligenz und Gehirn
- Gehirn und Geist
- Musik und Gehirn
- Spiritualität, Religiosität und Gehirn
- Moral und Gehirn
- Das Belohnungssystem des Gehirns
Siehe auch
- Oxytocin – ein soziales Hormon
- Enzephalopathie
- Koma
- Neuroprotektion
- Schlaganfall – einfach erklärt
- Morbus Parkinson
- Anorexia nervosa
- ADHS
Literatur