Selbstmord (Suizid) ist ein weltweites Phänomen, das wegen seiner Heterogenität bezüglich vieler Einflussfaktoren, wie Geschlecht, Altersgruppe und sozioökonomischer und politischer Zusammenhänge, differenziert betrachtet werden muss. In der Regel ist er kein unvorhersehbares Ereignis. Zuvor reifen Selbstmordgedanken. Verstärken sie sich jedoch und nehmen die Gedankenwelt fordernd ein, und kommt es zu selbstdestruktivem Verhalten, tritt rasch eine Notfallsituation ein, die sich in aller Regel nur durch medizinische Maßnahmen lösen lässt. Dazu gibt es erfolgversprechende Entwicklungen.

Risikofaktoren


Zu den Risikofaktoren zählen Absinken des Sozialstatus, politische Verfolgung, beruflicher Stress, Zerstörung der Lebenszusammenhänge (Einbindung in die jeweilige traditionelle Kultur, Familie) oder der Lebensperspektive. Alkohol- und Drogensucht, sexueller Missbrauch, physikalische Gewalt und Psychoterror spielen ebenfalls eine bedeutende Rolle. Psychiatrische Erkrankungen, wie die unipolare oder bipolare Depression oder die Schizophrenie, sind per se Risikofaktoren. Einzelne Risikofaktoren nehmen im Laufe der Jahre zu, so eine Vereinzelung, z. B. durch ansteigenden beruflichen Stress oder zunehmende Brüchigkeit persönlicher Beziehungen, die selbst wieder multifaktoriell ist. Als Faktoren, die das Suizidrisiko mindern, gelten vor allem eine gute siale Einbindung, Religiosität, Optimismus und gute Sorge um Kinder (1)Lancet. 2016 Mar 19; 387(10024): 1227–1239.   doi: 10.1016/S0140-6736(15)00234-2

Häufigkeit

Genaue Zahlen zur Suizidalität fehlen. Die WHO geht von etwa 11 Selbstmorden pro 100.000 Personen aus (2)World Health Organization. [accessed 5 November 2014];Mental health: suicide prevention. 2014 … Continue reading. Die Zahl scheint anzusteigen. Wenn global oder in einzelnen Gruppen die Suizidalität steigt, kann dies auf zunehmende äußere Risikofaktoren zurückführbar sein (3)Lancet. 2016 Mar 19; 387(10024): 1227–1239.  doi: 10.1016/S0140-6736(15)00234-2

Die Inzidenz (der statistische Unterschied) zwischen Selbstmordgedanken und Selbstmordversuchen ist bemerkenswert gering: man geht davon aus, dass die weltweite Prävalenz (Auftreten) über die Lebenszeit gerechnet (die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in seinem Leben etwas dieser Art erlebt) für Suizidgedanken bei 9,2 % und für einen Suizidversuch bei 2,7 % liegt. (4)Br J Psychiatry. 2008 Feb; 192(2):98-105. Wer Selbstmordgedanken hegt, hat damit ein außerordentlich hohes Risiko, auch einen Suizid zu begehen. Wenn sich die Gedanken verselbständigen, tritt eine absolute Notfallsituation ein.

Erkennung einer Gefährdung

Während Selbstmordgedanken reifen, werden die Betroffenen oft für ihre nähere Umgebung auffällig. Um jemanden als gefährdet zu erkennen, ist im Allgemeinen keine besondere Sensibilität erforderlich, sondern viel mehr offene Augen und Ohren sowie eine Bereitschaft, sich mit dem / der Betreffenden zu befassen und auf irgendeine Weise für Hilfe zu sorgen.

Sind erst einmal selbstdestruktive Handlungen erkennbar, ist es hohe Zeit einzugreifen. Waren bereits früher Suizidversuche unternommen worden oder sind in der Vorgeschichte Aufenthalte in einer psychiatrischen Klinik wegen Suizidalität bekannt, so kann eine Gefährdungseinschätzung frühzeitig erkannt werden.

Nahestehende Menschen sollten auf eine psychotherapeutische oder psychiatrische Diagnostik und Intervention drängen. In einer akuten Gefährdungssituation, in der der eigene Wille des / der Betroffenen offensichtlich krankhaft in Richtung Suizid gebahnt ist, in der äußere Hilfe selbst nicht mehr gesucht oder gar akzeptiert werden kann, liegt die Verantwortung für das Leben oft in der Hand der unmittelbar nächsten Personen.

Glutamat-Übertragungssystem im Gehirn

Eine akute Suizidgefährdung kann von äußeren Ereignissen ausgehen, aber auch die Folge von sich allmählich entwickelnden Störungen der Gehirnfunktion sein und im Rahmen psychiatrischer Erkrankungen, wie der endogenen unipolaren oder bipolaren Depression (unipolar = ohne, bipolar = mit manischen Phasen) und der Schizophrenie, und ohne äußere Auslöser auftreten. In jedem Fall spielen Veränderungen des Glutamat-Übertragungssystems eine vermittelnde Rolle.
Ein Teil der Prädispositionen scheint erblich übertragbar zu sein, wie Zwillingsstudien belegen (5)Psychol Med. 2002 Jan; 32(1):11-24 .

Prävention

Selbstmordprävention ist vielschichtig und beginnt in früher Kindheit durch Vermittlung einer Geborgenheit und von Selbstvertrauen. In späteren Lebensjahren sind Maßnahmen zur Unterbrechung selbstdestruktiver Gedanken und Handlungsweisen langwierig und schwierig. Dazu gibt es viel Erfahrung und eine große Literatur, die hier nicht Thema ist (6)Prog Neuropsychopharmacol Biol Psychiatry. 2011 Jun 1;35(4):848-53. doi: … Continue reading.

Therapie in einer akuten Gefährdungssituation

Die Therapie akuter Selbstmordgedanken basierte früher auf einer psychologischen und psychiatrischen Intervention. Heute stehen auch Medikamente zur Verfügung, die rasch und wirksam eine Suizidalität zu unterbrechen vermögen.

Akute medikamentöse Intervention

Akute Suizidgedanken sind immer ein medizinischer Notfall. Um Betroffene aus ihren hochgradig lebensbedrohlichen Gedankenzirkeln zu befreien, stehen psychologische, psychiatrische und medikamentöse Intervention zur Verfügung (7)Lancet. 2016 Mar 19; 387(10024): 1227–1239 . Da ein Zugang zur geschlossenen Gedankenwelt der Betroffenen durch Gespräche in der akuten Gefährdungssituation praktisch nicht möglich ist, wurde nach einer wirksamen medikamentösen Möglichkeit einer sofortigen Beeinflussung gesucht.

Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs)

Sie sind geringfügig wirksam. Bei Jugendlichen reduzieren sie die Suizidrate um 1-2%. (8)BMJ. 2009 Aug 11; 339():b2880. Lithium scheint bei affektiven Störungen die Suizidrate ebenso zu senken. (9)J Health Econ. 2009 May; 28(3):659-76 (10)Bipolar Disord. 2008 Feb; 10(1):87-94.

Seit der ersten Veröffentlichung einer Studie zur Beeinflussung der Glutamin-Übertragung an den Synapsen der Gehirnzellen ist eine zielgerichtete Notfallmedikation ins Blickfeld gekommen. Als eine relativ neue Möglichkeit, über diesen Weg einzugreifen, steht Ketamin im Mittelpunkt des Interesses.

Ketamin

Unter den Notfallmedikamenten, die innerhalb weniger Minuten die suizidalen Gedanken unterbrechen können, nimmt Ketamin eine herausragende Stellung ein. Über seine Wirkung liegen inzwischen die meisten und besten Erfahrungen vor. Ketamin greift als NMDA-Rezeptor-Antagonist in das Glutamat-System des Gehirns ein und vermag besser als andere Glutamat-Rezeptor-Modulatoren, die Stimmung aufzuhellen. (11)J Clin Psychiatry. 2010 Dec;71(12):1605-11. doi: 10.4088/JCP.09m05327blu. (12)Cochrane Database Syst Rev. 2015 Sep 29;(9):CD011611. doi: 10.1002/14651858.CD011611.pub2 Eine Studie an Patienten mit Selbstmordgedanken zeigte, dass mehr Teilnehmer, die Ketamin erhielten, am Tag 3 eine vollständige Remission ihrer Suizidgedanken erreichten als diejenigen, die Placebo erhielten (63,0 % vs.31,6 %). Die Ergebnisse weisen zudem darauf hin, dass die antisuizidale Wirkung von Ketamin durch eine analgetische Wirkung auf psychische Schmerzen erklärt werden könnte. (13)BMJ. 2022 Feb 2;376:e067194. DOI: 10.1136/bmj-2021-067194.

Dauer des Ketamin-Effekts

Der Effekt einer einmaligen Ketamin-Infusion ist in der Regel vorübergehend. Wiederholte Infusionen haben in einer kleinen Studie eine über 3 Monate anhaltende Verringerung der suizidalen Gedanken bei schwer depressiven Patienten unter ambulanter Betreuung bewirkt (14)J Clin Psychiatry. 2016 Jun;77(6):e719-25. doi: 10.4088/JCP.15m10056. Inwiefern sich wiederholte Infusionen dazu eignen, eine lang dauernde psychologische / psychiatrische Gesprächstherapie zur „Umprogrammierung“ der Gedankenwelt und die Wirkung einer medikamentösen Erhaltungstherapie einer zugrunde liegenden psychiatrischen Erkrankung fördernd zu unterstützen, ist noch ungeklärt. Jedenfalls steht im Raum, dass sich die medikamentöse Wirkzeit besonders gut für eine psychiatrische / psychotherapeutische „Umprogrammierung“ (z. B. Bahnung in optimistischere Richtungen) nutzen lässt.

Erfolgsdokumentation

Um den Erfolg einer Akutintervention durch z. B. Ketamin-Infusionen zu erkennen und zu dokumentieren, eignen sich Scores, z. B. entsprechend dem Snaith-Hamilton Pleasure Scale (SHAPS). In ihnen spielt insbesondere die Anhedonie (Unfähigkeit Freude zu empfinden) eine Rolle; sie hat sich als ein Symptom herausgestellt, welches unabhängig von anderen depressiven Symptomen (wie vermehrtes Grübeln, Desinteresse, innere Leere, Schuldgefühle, Schlaflosigkeit etc.) mit einer Suizidalität assoziiert ist und zur Überprüfung des Therapieerfolgs eignet (15)J Affect Disord. 2017 Aug 15;218:195-200. doi: 10.1016/j.jad.2017.04.057.


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Verweise

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