Polymyalgia rheumatica
Die Polymyalgia rheumatica (oft kurz nur als Polymyalgie bezeichnet und als PMR abgekürzt) ist eine Autoimmunkrankheit mit Schmerzen im Weichteilbereich von Schultergürtel und Nacken sowie des Beckengürtels. Die Erkrankung gehört zu den Gefäßkrankheiten (Vaskulitiden) und ist häufig kombiniert mit einer Entzündung der Schläfenerterien (der Arteriitis temporalis Horton). Die PMR ist hinter der rheumatoiden Arthritis die zweithäufigste chronisch entzündliche rheumatische Erkrankungen und tritt hauptsächlich bei älteren Menschen auf (1)Lancet. 2008 Jul 19;372(9634):234-45 (2)Acta Ophthalmol. 2009 Feb;87(1):13-32 (3)BMJ. 2008 Apr 5;336(7647):765-9 (4)Best Pract Res Clin Rheumatol. 2012 Feb;26(1):91-104.
→ Über facebook informieren wir Sie über Neues auf unseren Seiten!
Inhaltsverzeichnis
Allgemeines
Die Polymyalgie (Polymyalgia rheumatica) ist eine rheumatische Erkrankung, die
- am häufigsten bei Frauen ab 50 Jahren mit einem Erkrankungsgipfel im Alter zwischen 70 und 80 Jahren auftritt,
- durch morgendliche schmerzhafte Steifheit der Schulter gekennzeichnet ist, und
- in 5-30% mit einer Riesenzellarteriitis der Temporalarterie (Horton) assoziiert ist, die jederzeit während des Krankheitsverlaufs auftreten kann (umgekehrt entwickeln etwa 50% der Patienten mit Riesenzellarteriitis eine Polymyalgie (5)Heart. 2016 Mar;102(5):383-9 ) (6)Neurol India. 2016 Sep-Oct;64(5):912-3.
- familiär gehäuft vorkommt und eine genetische Grundlage besitzt (sie ist mit spezifischen Allelen des HLA-DR4 assoziiert).
Führende Symptome
Führend ist der ohne erkennbare auslösende Ursache oft plötzlich einsetzende und andauernde symmetrische Weichteilschmerz mit Bewegungseinschränkung der Schultern und der Arme, manchmal auch der Beine im Hüft- und Oberschenkelbereich. Gelegentlich kommen subfebrile Temperaturen hinzu. Morgensteifigkeit über 45 Minuten und proximale Muskelschmerzen um Schultergürtel und gelegentlich auch Hüften sind häufig, typischerweise fehlen periphere Gelenkbeteiligungen.
Diagnostik
Die Symptomatik plötzlich auftretender Weichteilsschmerzen um den Schultergürtel bei einem älteren Menschen bei Fehlen einer peripheren Gelenkbeteiligung ist so charakteristisch, dass sie bereits zu einer Verdachtsdiagnose führt.
Der bereits durch die Anamnese begründete starke Verdacht wird durch eine starke Senkungsbeschleunigung (BSG) und Erhöhung von CRP, IL-6 und Fibrinogen unterstützt. Eine oft vorliegende Sturzsenkung (maximale Senkungsbeschleunigung von über 100/Stunde) kann differenzialdiagnostisch an einen malignen Prozess mit paraneoplastischer Myopathie oder Arthropathie denken lassen. Eine akribische Tumorsuche gehört daher zur Diagnostik hinzu.
Zur Verlaufsbeobachtung unter Therapie eignet sich besonders das Plasma-Fibrinogen, da es die Krankheitsaktivität sensibler begleitet als die Blutsenkungsgeschwindigkeit und das CRP (7)Rheumatology (Oxford). 2013 Mar;52(3):465-71.
Differenzialdiagnosen
Bei der Symptomatik einer Polymyalgie ist an folgende Erkrankungen zu denken:
- maligner Tumor: er sollte durch eine Tumorsuche ausgeschlossen werden.
- rheumatoide Arthritis: ihre Diagnostik beruht auf ARA-Kriterien (siehe hier).
- Systemerkrankung wie den Lupus erythematodes (LE): die für einen LE typischen Autoantikörper (Rheumafaktor, ANA) sind bei der Polymyalgie negativ.
- Myositis (auch Dermatomyositis): sie lässt sich bei nicht erhöhten Muskelenzymen (CPK) rasch unwahrscheinlich machen.
- Fibromyalgie: bei ihr fehlt die bei der Polymyalgie charakteristische starke Senkungsbeschleunigung.
Assoziation der PMR mit anderen Krankheiten
Bei der PMR sind laut Statistiken Assoziationen mit Schlaganfall, kardiovaskulären Erkrankungen (wie Koronarsklerose), peripheren arteriellen Erkrankungen (paVk), Divertikelerkrankungen und Hypothyreose gefunden worden. (8)Arthritis Res Ther. 2018 Nov 20;20(1):258. doi: 10.1186/s13075-018-1757-y.
Sicherung der Diagnose
Wenn der Gedanke an eine Polymyalgia rheumatica aufkommt, ist auch an eine Manifestation im Sinne einer Arteriitis temporalis Horton zu denken und eine entsprechende Diagnostik einzuleiten. Sie umfasst die Palpation der Temporalarterien, eine Sonographie mit Wanddickenbestimmung der Temporalarterien, ggf. eine Biopsie des hinteren Astes einer Temporalarterie und eine augenklinische Untersuchung. Dieser diagnostische Strang ist wichtig, weil im Falle einer Arteriitis temporalis eine Erblindung droht.
Wenn die Untersuchungen keine andere Autoimmunkrankheit (wie rheumatoide Arthritis oder Lupus erythematodes) und keinen Tumornachweis ergeben hat, und wenn sich dadurch der Verdacht auf eine Polymyalgia rheumatica verstärkt, erfolgt in der Regel eine ex-juvantibus-Behandlung mit Kortikosteroiden. Ein gutes Ansprechen bereits innerhalb von 1-3 Tagen spricht für die Diagnose.
PRM und zerebrovaskuläres Risiko
Laut einer Datenanalyse von Studien besteht eine Assoziation der PMR mit zerebrovaskulären Insulten (relatives Schlaganfallrisiko 1,87-fach gegenüber Nicht-PRM). PRM gilt damit als eine wichtige Ursache für einen Schlaganfall bei älteren Menschen. Dies bedeutet, dass man bei nachgewiesener Polymyalgie mit kleinen Dosen Steroiden das Risiko eines Schlaganfalls mindern und bei einem Schlaganfall den Verlauf günstiger gestalten kann. Eine massive Senkungsbeschleunigung bei einem Schlaganfall kann ein wichtiges Zeichen sein, das zur zugrunde liegenden Diagnose einer Polymyalgie und zur richtigen Therapie führt (9)Neurol India. 2016 Sep-Oct;64(5):912-3.
In einer Studie mit einem Beobachtungszeitraum von 7,8 Jahren fand sich eine erhöhte Inzidenz an vaskulären Ereignissen (v. a. Schlaganfall) von 36,1 versus 12,2 pro 1000 Personenjahre (2,6-fach) gegenüber Nicht-PRM. Das erhöhte Risiko betraf besonders jüngere Menschen unter 60 Jahre und in einem frühen Erkrankungsstadium (10)CMAJ. 2014 Sep 16;186(13):E495-501.
In einer großen Studie wurde während einer Beobachtungszeit von im Mittel 3,14 Jahren jedoch keine Assoziation zwischen PMR mit oder ohne Riesenzellarteriitis und vaskulären Ereignissen gefunden. Patienten mit PMR und Riesenzellarteriitis wiesen sogar eine geringere Rate an plötzlichem Herztod (3,18 vs. 3,61 / 1000 Personenjahre, Risiko 0,79-fach) und transienter ischämischer Attacke (TIA) (5,11 vs. 5,61 / 1000 Personenjahre, Risiko 0,67-fach) auf (11)Heart. 2016 Mar;102(5):383-9. Damit ist die Frage einer Assoziation der PRM mit vaskulären Ereignissen bisher kontrovers beantwortet worden und wartet auf eine definitive Klärung.
Therapie
Die Behandlung wird individuell gestaltet und überwacht. Meist reicht eine Anfangsdosis von 30 mg/kg Prednisolon mit allmählicher Reduktion der Dosis – je nach Erfolg – auf etwa 10 bis 15 mg. Die Behandlung wird in der Regel über mindestens 2 Jahre fortgeführt. Liegt eine Arteriitis temporalis Horton mit der Gefahr einer Erblindung vor, werden Kortikosteroide hochdosiert empfohlen (12)Am Fam Physician. 2006 Nov 1;74(9):1547-54 (13)Rev Neurol Dis. 2008 Summer;5(3):140-52.
Auch der IL-6-Blocker Tocilizumab hat einen günstigen Effekt auf Symptomatik und Verlauf der Polymyalgia rheumatica (14)Arthritis Care Res (Hoboken). 2012 Nov;64(11):1720-9. In einer Studie, in der Patienten mit Relaps (neuerliche proximale Muskelschmerzen und Morgensteifigkeit) Tocilizumabinfusionen (8 mg/kg alle 4 Wochen) verabreicht wurden, kam es nach etwa 8 Wochen zu einer wesentlichen Verbesserung bzw. zum Verschwinden der Beschwerden; die weitergeführte Prednisolon-Therapie konnte nach etwa 12 Wochen reduziert werden. Während einer mittleren Beobachtungszeit von 43 Wochen wurden keine schweren Nebenwirkungen festgestellt (15)RMD Open. 2015 Nov 27;1(1):e000162. Tocilizumab scheint als Reservemedikament in Betracht gezogen werden zu können, wenn die Kortikoid-Therapie versagt oder inakzeptable Nebenwirkungen hervorruft. Einzelbeobachtungen und kleine Studien zeigen, dass Tocilizimab allein oder mit Glukokortikoiden oder Methotrexat zusammen in solchen Fällen zu einer klinischen Besserung führen kann (16)Semin Arthritis Rheum. 2013 Aug;43(1):113-8 (17)Clin Rheumatol. 2016 May;35(5):1367-75.
Einzelbeobachtungen besagen, dass auch Makrolid-Antibiotika wie Clarithromycin wegen ihrer antientzündlichen Wirkung (18)Int J Antimicrob Agents. 1999 Feb;11(2):121-32 einen günstigen Effekt auf die Polymyalgie ausüben (19)Korean J Intern Med. 2014 Jul;29(4):539-41.
Die Überwachung des Therapieerfolgs geschieht über den Rückgang der Symptomatik und den Abfall der Entzündungsmarker, am besten über die Verfolgung des Blutspiegels von IL-6 (Interleukin-6), einem sensiblen Akute-Phase-Marker. Ein persistierend erhöhter IL-6-Spiegel während einer Therapie zeigt eine erhöhte Bereitschaft für einen Relaps an (20)Clin Rheumatol. 2016 May;35(5):1367-75.
→ Über facebook informieren wir Sie über Neues auf unseren Seiten!
Verweise
Cave: Dosierungsangaben für Medikamente dürfen nicht ungeprüft übernommen werden.
Literatur
↑1 | Lancet. 2008 Jul 19;372(9634):234-45 |
---|---|
↑2 | Acta Ophthalmol. 2009 Feb;87(1):13-32 |
↑3 | BMJ. 2008 Apr 5;336(7647):765-9 |
↑4 | Best Pract Res Clin Rheumatol. 2012 Feb;26(1):91-104 |
↑5 | Heart. 2016 Mar;102(5):383-9 |
↑6 | Neurol India. 2016 Sep-Oct;64(5):912-3 |
↑7 | Rheumatology (Oxford). 2013 Mar;52(3):465-71 |
↑8 | Arthritis Res Ther. 2018 Nov 20;20(1):258. doi: 10.1186/s13075-018-1757-y. |
↑9 | Neurol India. 2016 Sep-Oct;64(5):912-3 |
↑10 | CMAJ. 2014 Sep 16;186(13):E495-501 |
↑11 | Heart. 2016 Mar;102(5):383-9 |
↑12 | Am Fam Physician. 2006 Nov 1;74(9):1547-54 |
↑13 | Rev Neurol Dis. 2008 Summer;5(3):140-52 |
↑14 | Arthritis Care Res (Hoboken). 2012 Nov;64(11):1720-9 |
↑15 | RMD Open. 2015 Nov 27;1(1):e000162 |
↑16 | Semin Arthritis Rheum. 2013 Aug;43(1):113-8 |
↑17 | Clin Rheumatol. 2016 May;35(5):1367-75 |
↑18 | Int J Antimicrob Agents. 1999 Feb;11(2):121-32 |
↑19 | Korean J Intern Med. 2014 Jul;29(4):539-41 |
↑20 | Clin Rheumatol. 2016 May;35(5):1367-75 |