Die Polymyalgia rheumatica (oft kurz nur als Polymyalgie bezeichnet und als PMR abgekürzt) ist eine Autoimmunkrankheit mit Schmerzen im Weichteilbereich von Schultergürtel und Nacken sowie des Beckengürtels. (1)JAMA. 2020 Sep 8;324(10):993-994. DOI: 10.1001/jama.2020.10155

Das Wichtigste verständlich


Kurzgefasst
Die Polymyalgia rheumatica (PMR) gehört zur Gruppe der Gefäßkrankheiten (Vaskulitiden) und ist häufig kombiniert mit einer Entzündung der Schläfenarterien (Arteriitis temporalis Horton). Sie ist hinter der rheumatoiden Arthritis die zweithäufigste chronisch entzündliche rheumatische Erkrankung und tritt hauptsächlich bei älteren Menschen auf (2)Lancet. 2008 Jul 19;372(9634):234-45 (3)Acta Ophthalmol. 2009 Feb;87(1):13-32 (4)BMJ. 2008 Apr 5;336(7647):765-9 (5)Best Pract Res Clin Rheumatol. 2012 Feb;26(1):91-104.

Charakteristika einer PMR sind:

  • Vorkommen am häufigsten bei Menschen, überwiegend Frauen, ab 50 Jahren mit einem Erkrankungsgipfel im Alter zwischen 70 und 80 Jahren,
  • morgendliche schmerzhafte Steifheit der Schultern,
  • Assoziation mit einer Riesenzellarteriitis der Temporalarterie (Horton) in 5-30%, die jederzeit während des Krankheitsverlaufs auftreten kann (umgekehrt entwickeln etwa 50% der Patienten mit Riesenzellarteriitis eine Polymyalgie (6)Heart. 2016 Mar;102(5):383-9 ) (7)Neurol India. 2016 Sep-Oct;64(5):912-3.
  • familiär gehäuftes Vorkommen (genetische Grundlage, assoziiert mit spezifischen Allelen des HLA-DR4).

Die Diagnostik stützt sich auf das Beschwerdebild bei Frauen im höheren Alter, eine starke Beschleunigung der Blutsenkung und stark erhöhten Entzündungsparametern. Bei einer gleichzeitigen Arterienentzündung an der Schläfe (Arteriitis temporalis) ist eine Sonographie und ggf. eine mikroskopische Untersuchung einer Gewebeprobe (Biopsie und Histologie) erforderlich. Blutsenkung und IL-6 eignen sich besonders zur Verlaufskontrolle.

Die wichtigsten Differenzialdiagnosen sind eine Fibromyalgie (Bindegewebskrankheit) und eine Paraneoplasie (mit einem bösartigen Tumor assoziiert).

Die Behandlung stützt sich auf Kortisonpräparate (Glukokortikoide); mit einem Wiederauftreten muss gerechnet werden. Antientzündliche Biologika können dies günstig beeinflussen (s. u.).


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Entstehung

PMR ist multigenetisch determiniert. Bei Betroffenen wurden viele mutierte Allele, insbesondere Interleukin-6 (IL-6)-Polymorphismen, gefunden. (8)Expert Rev Clin Immunol. 2021;17(3):225–232 Es kommt zu einer verstärkten IL-6-Reaktion, was mit einer Verminderung der im Blut zirkulierenden B-Zellen zusammenhängt. Die Anzahl der B-Zellen korreliert umgekehrt mit Entzündungsmarkern im Serum. (9)Arthritis Rheumatol. 2014 Jul;66(7):1927-38 In den Arterienwänden betroffener Gefäße sind die Plasmazellen dagegen vermehrt. Es wird ein dysreguliertes Checkpoint-System angenommen, welches die Entzündung in den Blutgefäßen nicht unterdrücken kann. Dies fördert die Entstehung einer Vaskulitis. (10)Front Med (Lausanne). 2022 Nov 17;9:1058600. doi: 10.3389/fmed.2022.1058600 (11)Reumatismo. 2018 Mar 27;70(1):10-17 An der komplexen Dysregulation des Immunsystems sind Alterungsprozesse und epigenetische Faktoren beteiligt. (12)Autoimmun Rev. 2022 Feb;21(2):102995. doi: 10.1016/j.autrev.2021.102995

Führende Symptome

Führend ist der ohne erkennbare auslösende Ursache oft plötzlich einsetzende und andauernde symmetrische Weichteilschmerz mit Bewegungseinschränkung der Schultern und der Arme, manchmal auch der Beine im Hüft- und Oberschenkelbereich. Gelegentlich kommen subfebrile Temperaturen hinzu. Morgensteifigkeit über 45 Minuten und proximale Muskelschmerzen um Schultergürtel und gelegentlich auch Hüften sind häufig, typischerweise fehlen periphere Gelenkbeteiligungen.

Diagnostik

Die Symptomatik plötzlich auftretender Weichteilschmerzen um den Schultergürtel bei einem älteren Menschen bei Fehlen einer peripheren Gelenkbeteiligung ist so charakteristisch, dass sie bereits zu einer Verdachtsdiagnose führt.

Der bereits durch die Anamnese begründete starke Verdacht wird durch eine starke Senkungsbeschleunigung (BSG) und Erhöhung von CRP, IL-6 und Fibrinogen unterstützt. Eine oft vorliegende Sturzsenkung (maximale Senkungsbeschleunigung von über 100/Stunde) kann differenzialdiagnostisch an einen malignen Prozess mit paraneoplastischer Myopathie oder Arthropathie denken lassen. Eine akribische Tumorsuche gehört daher zur Diagnostik.

Zur Verlaufsbeobachtung unter Therapie eignet sich besonders das Plasma-Fibrinogen, da es die Krankheitsaktivität sensibler begleitet als die Blutsenkungsgeschwindigkeit und das CRP (13)Rheumatology (Oxford). 2013 Mar;52(3):465-71.

Differenzialdiagnosen

Bei der Symptomatik einer Polymyalgie ist an folgende Erkrankungen zu denken:

  • maligner Tumor: er sollte durch eine Tumorsuche ausgeschlossen werden.
  • rheumatoide Arthritis: ihre Diagnostik beruht auf ARA-Kriterien (siehe hier).
  • Systemerkrankung wie den Lupus erythematodes (LE): die für einen LE typischen Autoantikörper (Rheumafaktor, ANA) sind bei der Polymyalgie negativ.
  • Myositis (auch Dermatomyositis): sie lässt sich bei nicht erhöhten Muskelenzymen (CPK) rasch unwahrscheinlich machen.
  • Fibromyalgie: bei ihr fehlt die bei der Polymyalgie charakteristische starke Senkungsbeschleunigung.

Assoziation mit anderen Krankheiten

Bei der PMR sind laut Statistiken Assoziationen mit Schlaganfall, kardiovaskulären Erkrankungen (wie Koronarsklerose), peripheren arteriellen Erkrankungen (paVk), Divertikelerkrankungen und Hypothyreose gefunden worden. (14) 2018 Nov 20;20(1):258. doi: 10.1186/s13075-018-1757-y.

Sicherung der Diagnose

Wenn eine Polymyalgia rheumatica infrage kommt, ist auch an eine Manifestation im Sinne einer Arteriitis temporalis Horton zu denken und eine entsprechende Diagnostik einzuleiten. Sie umfasst die Palpation der Temporalarterien, eine Sonographie mit Wanddickenbestimmung der Temporalarterien, ggf. eine Biopsie des hinteren Astes einer Temporalarterie und eine augenklinische Untersuchung. Dieser diagnostische Strang ist wichtig, weil im Falle einer Arteriitis temporalis eine Erblindung droht.

Wenn die Untersuchungen keine andere Autoimmunkrankheit (wie rheumatoide Arthritis oder Lupus erythematodes) und keinen Tumornachweis ergeben hat, und wenn sich dadurch der Verdacht auf eine Polymyalgia rheumatica verstärkt, erfolgt in der Regel eine ex-juvantibus-Behandlung mit Kortikosteroiden. Ein gutes Ansprechen bereits innerhalb von 1-3 Tagen spricht für die Diagnose.

PMR und zerebrovaskuläres Risiko

Laut einer Datenanalyse von Studien besteht eine Assoziation der PMR mit zerebrovaskulären Insulten (relatives Schlaganfallrisiko 1,87-fach gegenüber Nicht-PMR erhöht).

Die PMR gilt damit als eine wichtige Ursache für einen Schlaganfall bei älteren Menschen. Bei nachgewiesener Polymyalgie können kleine Dosen Steroidhormone das Risiko eines Schlaganfalls mindern und bei einem Schlaganfall den Verlauf günstiger gestalten.

Eine massive Senkungsbeschleunigung bei einem Schlaganfall kann ein wichtiges Zeichen sein, das zur zugrunde liegenden Diagnose einer Polymyalgie und zur richtigen Therapie führt (15)Neurol India. 2016 Sep-Oct;64(5):912-3.

Studien

In einer Studie mit einem Beobachtungszeitraum von 7,8 Jahren fand sich eine erhöhte Inzidenz an vaskulären Ereignissen (v. a. Schlaganfall) von 36,1 versus 12,2 pro 1000 Personenjahre (2,6-fach) gegenüber Nicht-PRM. Das erhöhte Risiko betraf besonders jüngere Menschen unter 60 Jahre und in einem frühen Erkrankungsstadium (16)CMAJ. 2014 Sep 16;186(13):E495-501.

In einer großen Studie wurde während einer Beobachtungszeit von im Mittel 3,14 Jahren jedoch keine Assoziation zwischen PMR mit oder ohne Riesenzellarteriitis und vaskulären Ereignissen gefunden. Patienten mit PMR und Riesenzellarteriitis wiesen sogar eine geringere Rate an plötzlichem Herztod (3,18 vs. 3,61 / 1000 Personenjahre, Risiko 0,79-fach) und transienter ischämischer Attacke (TIA) (5,11 vs. 5,61 / 1000 Personenjahre, Risiko 0,67-fach) auf (17)Heart. 2016 Mar;102(5):383-9.

Eine Grazer Studie bestätigt den Zusammenhang zwischen PMR und kardiovaskulären Ereignissen, weist aber darauf hin, dass in der PMR-Gruppe ein „underuse“ von Statinen auffiel. (18)RMD Open. 2023 Sep;9(3):e003481. doi: 10.1136/rmdopen-2023-003481

Damit ist die Frage einer ursächlichen Assoziation der PMR mit kardiovaskulären Ereignissen bisher kontrovers beantwortet worden und wartet auf eine definitive Klärung.

→ Zur Therapie s. u.


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Therapie

Glukokortikoide

Glukokortikosteroide sind die Basis bei neu entdeckter PMR. Die Behandlung wird individuell gestaltet und überwacht. Meist reicht eine Anfangsdosis von 30 mg/kg Prednisolon mit allmählicher Reduktion der Dosis – je nach Erfolg – auf etwa 10 bis 15 mg. Die Behandlung wird in der Regel über mindestens 2 Jahre fortgeführt. Liegt eine Arteriitis temporalis Horton mit der Gefahr einer Erblindung vor, werden Kortikosteroide hochdosiert empfohlen (19)Am Fam Physician. 2006 Nov 1;74(9):1547-54 (20)Rev Neurol Dis. 2008 Summer;5(3):140-52.

IL-6-Hemmer

Auch der IL-6-Blocker Tocilizumab hat einen günstigen Effekt auf Symptomatik und Verlauf der Polymyalgia rheumatica (21)Arthritis Care Res (Hoboken). 2012 Nov;64(11):1720-9. In einer Studie, in der Patienten mit Relaps (neuerliche proximale Muskelschmerzen und Morgensteifigkeit) Tocilizumabinfusionen (8 mg/kg alle 4 Wochen) verabreicht wurden, kam es nach etwa 8 Wochen zu einer wesentlichen Verbesserung bzw. zum Verschwinden der Beschwerden; die weitergeführte Prednisolon-Therapie konnte nach etwa 12 Wochen reduziert werden. Während einer mittleren Beobachtungszeit von 43 Wochen wurden keine schweren Nebenwirkungen festgestellt (22)RMD Open. 2015 Nov 27;1(1):e000162. Tocilizumab scheint als Reservemedikament in Betracht gezogen werden zu können, wenn die Kortikoid-Therapie versagt oder inakzeptable Nebenwirkungen hervorruft. Einzelbeobachtungen und kleine Studien zeigen, dass Tocilizimab allein oder mit Glukokortikoiden oder Methotrexat zusammen in solchen Fällen zu einer klinischen Besserung führen kann  (23)Semin Arthritis Rheum. 2013 Aug;43(1):113-8 (24)Clin Rheumatol. 2016 May;35(5):1367-75.

Der IL-6-Hemmer Sarilumab führte in einer Studie bei Patienten, die während der Kortikoid-Entwöhnung einen Relaps erlitten, deutlich häufiger zu einer anhaltenden Besserung (in Woche 52: 28%  vs. 10% unter Placebo) und zu eine Reduzierung der kumulativen Glukokortikoiddosis. Nebenwirkungen waren Neutropenie (15 % vs. 0 %), Arthralgie (15 % vs. 5 %) und Durchfall (12 % vs. 2 %). (25)N Engl J Med 2023; 389:1263-1272 DOI: 10.1056/NEJMoa2303452

Einzelbeobachtungen besagen, dass auch Makrolid-Antibiotika wie Clarithromycin wegen ihrer antientzündlichen Wirkung (26)Int J Antimicrob Agents. 1999 Feb;11(2):121-32 einen günstigen Effekt auf die Polymyalgie ausüben (27)Korean J Intern Med. 2014 Jul;29(4):539-41.

JAK-Hemmung

Eine chinesische Arbeitsgruppe fand, dass bei PMR-Betroffenen verschiedene Rezeptoren von Signalwegen überexprimiert waren, die alle in den JAK-Signalweg (Janus tyrosine kinase, JAK) münden, und dass Tofacitinib in vitro die IL-6R- und JAK2-Expression von CD4+T-Zellen von PMR-Patienten unterdrückte. Patienten, die bisher nicht anbehandelt waren, wurden entweder mit Glukokortikoiden oder mit Tofacitinib behandelt. Beide Gruppen zeigten nach 12 und 24 Wochen den gleichen Therapieerfolg. Ernsthaften Nebenwirkungen waren nicht beobachtet worden. (28)PLoS Med. 2023 Jun 29;20(6):e1004249. doi: 10.1371/journal.pmed.1004249

Therapieüberwachung

Die Überwachung des Therapieerfolgs geschieht über den Rückgang der Symptomatik und den Abfall der Entzündungsmarker, am besten über die Verfolgung des Blutspiegels von IL-6 (Interleukin-6), einem sensiblen Akute-Phase-Marker. Ein persistierend erhöhter IL-6-Spiegel während einer Therapie zeigt eine erhöhte Bereitschaft für einen Relaps an (29)Clin Rheumatol. 2016 May;35(5):1367-75.


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Verweise

 

Cave: Dosierungsangaben für Medikamente dürfen nicht ungeprüft übernommen werden.

Autor: Prof. Dr. Hans-Peter Buscher (s. Impressum)

Literatur[+]