Anorexia nervosa

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[vc_row][vc_column][vc_column_text]Die Anorexia nervosa, manchmal kurz als Anorexie (oft abgekürzt AN) bezeichnet, ist eine krankhafte Magersucht, bei der eine Störung des Körperempfindens im Zentrum steht. Sie betrifft ganz überwiegend junge Mädchen ab der Pubertät. Es besteht bei ihnen ein durch Gesunde nicht nachvollziehbares Gefühl des Zu-dick-seins, was eine ausgeprägte Essstörung begründet.

Das Wichtigste verständlich

Kurzgefasst
Die Anorexie tritt vor allem bei Mädchen und jungen Frauen auf, sehr viel seltener bei jungen Männern. Gelegentlich ist dies eine Durchgangsphase von Monaten bis wenigen Jahren; es besteht jedoch eine hohe Wahrscheinlichkeit einer anhaltenden Bereitschaft für die Magersucht, vor allem wenn in der engeren Familie andere Mitglieder mit Anorexie zu finden sind. Offenbar besteht eine genetische Grundlage bei insgesamt multifaktorieller Genese.

Die klinische Auswirkungen betreffen über die Mangelernährung alle Organsysteme. Es besteht eine hohe Mortalität. Begleitende psychische Erkrankungen sind häufig, so vor allem eine Neigung zu besonderer Ängstlichkeit und Depression und eine besondere Empfindlichkeit gegenüber psychischen Verletzungen.

Grundlage der Behandlung ist eine familienbasierte Therapie, bei der allmählich ein anderes Körpergefühl und Essregeln eingeübt werden. Dem dienen Methoden einer kognitiven und verhaltensorientierten Therapie (z. B. „Enhanced cognitive behavioral therapy“, CBT-E). Solche Therapiemethoden haben einige Erfolge zu verzeichnen; allerdings ist der Erfolg meist wenig anhaltend. Eine Gewichtszunahme bedeutet nicht unbedingt auch eine kognitive Verbesserung, wodurch das Risiko eines Relapses (Wiederkommen der Magersucht) gegeben ist. (1)Nutrients. 2019 Aug 15;11(8):1907. DOI: 10.3390/nu11081907. PMID: 31443192; PMCID: PMC6723243.

 


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Prävalenz

Es wird angenommen, dass 0,2% der jungen Mädchen eine Anorexia nervosa entwickeln; etwa 6% pro Jahrzehnt sterben an ihr. (2)Psychoneuroendocrinology. 2007 Feb;32(2):106-13

Ursachen, Auslöser, Entstehung

Die Entstehung einer Anorexie ist nicht völlig geklärt. Offenbar besteht eine komplexe genetische Veranlagung. Ein psychopathologisches Umfeld kann in einigen Fällen gefunden werden. Das Darmmikrobiom spielt eine bedeutende Rolle. Die Folgen sind vielfältig und abhängig von der Unterversorgung des Körpers mit einzelnen Nahrungsbestandteilen.

Die Anorexia nervosa ist mit der Gefahr einer kritischen Unterversorgung des Körpers mit Energie, Vitaminen und Spurenelementen verbunden. Der gesamte Stoffwechsel und der Hormonhaushalt des Körpers sind beeinträchtigt. Frauen reagieren mit Amenorrhö. Kalzium- und Vitamin-D-Mangel führen zu Knochenabbau und Osteopenie. Es besteht eine Tendenz zur Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose). Unter den Laborwerten können eine Hypokaliämie und niedrige Werte für Blutkörperchen im Blutbild (Anämie, Leukopenie, Thrombopenie) auffallen, die durch Eiweiß- und Vitaminmangel erklärt werden können. Es kann zu Niereninsuffizienz und Herzrhythmusstörungen kommen, die durch Elektrolytstörungen und Energiemangel bedingt oder verstärkt sind.

Zu den mit einer Anorexie assoziierten Befunden gehört eine Verminderung des Hirnvolumens, das im Wesentlichen auf einen Verlust von Astrozyten in der weißen und grauen Substanz zurückzuführen ist und die Psychopathologie verselbständigt (s. u.).  (3)Adv Neurobiol. 2021;26:283-313. DOI: 10.1007/978-3-030-77375-5_12.

Bedeutung des Umfelds

Oft werden frühkindliche Erfahrungen in einer überfürsorglichen Familie ohne Möglichkeit der Konfliktauslebung, insbesondere die Beziehung zu einer überfürsorglichen und wenig selbstbewussten Mutter als Merkmal diskutiert, das zu Entstehung einer Anorexia nervosa führen soll. Unklar ist im Einzelfall, was Ursache und was Reaktion ist; in jedem Fall scheint sich eine nicht entwirrbare, wechselseitige ungünstige Verhaltensbeziehung zu entwickeln. Es ist nicht geklärt, ob allein eine solche Verhaltensentwicklung Auslöser einer Anorexia nervosa sein kann. (4)Eat Behav. 2014 Jan;15(1):49-59. DOI: 10.1016/j.eatbeh.2013.10.008. Epub 2013 Oct 22. PMID: … Continue reading Aber es gibt auch gegenteilige Aussagen in Richtung einer geringeren Fürsorlichkeit. (5)PLoS One. 2020 Nov 19;15(11):e0242518. DOI: 10.1371/journal.pone.0242518. PMID: 33212471; PMCID: … Continue reading In jedem Fall scheint psychosozialer Stress eine Rolle bei der Entstehung zu spielen. (6)Psychol Med. 2011 Sep;41(9):1963-9. doi: 10.1017/S0033291711000092. Epub 2011 Feb 2. PMID: 21284914. (7)Front Psychol. 2021 Mar 17;12:649848. DOI: 10.3389/fpsyg.2021.649848. PMID: 33815232; PMCID: … Continue reading

Regulations- und Stoffwechselsysteme

Verschiedene Regelkreise sind an der Kontrolle der Nahrungsaufnahme beteiligt. Sie sind in unterschiedlicher Weise bei der AN verändert. (8)Brain Res Rev. 2010 Mar;62(2):147-64. DOI: 10.1016/j.brainresrev.2009.10.007.

  • Dopamin, Serotonon-, Glutamat- und GABA-System, brain derived neurotropic Faktor (BDNF): Neurotransmitter: Sie reagieren bei der AN abnorm.
  • Hungerregulation: Leptin, Ghrelin, Melanocortin: Sie reagieren bei der AN abnorm.
  • Reaktionen des Gehirns: dazu siehe unten.

Mikrobiom des Darms

Essstörungen, wie die Bulimie und die Anorexie, sind mit tiefgreifenden Veränderungen des Darmmikrobioms (Darmflora) assoziiert. Von ihm ist bekannt, dass es über viele Wege den gesamten Körper mit seinem Stoffwechsel, seinem Abwehrsystem und seiner Psyche beeinflusst.

Bei einer Anorexie findet sich regelmäßig eine Dysbiose (pathologische Zusammensetzung der Keimspezies), deren allgemeines Kennzeichen eine Verringerung der Diversität (Vielfalt) und eine Verschiebung des Keimspektrums ist. Eine geringere Diversität ist signifikant mit depressiven Symptomen assoziiert. (9)Int J Eat Disord. 2017 Dec;50(12):1421-1431. DOI: 10.1002/eat.22801. (10)Psychosom Med. 2015 Nov-Dec;77(9):969-81. DOI: 10.1097/PSY.0000000000000247.

Eine Dysbiose fördert eine generelle Entzündungsreaktion im Körper, die auch das Gehirn einbezieht. Die Vielfalt der Bakterienarten bei AN-Patienten ist eingeschränkt, einzelne Arten treten zurück, andere hervor. Das Muster der Endotoxine ändert sich. Die Darmwand wird durchlässiger. Mediatorstoffe gelangen in den Körper und beeinflussen das Gehirn (gut-brain-axis).

In einem Mausmodell der Anorexie tritt alleine durch eine Nahrungsrestriktion eine Dysbiose ein (die nicht durch körperliche Aktivität beeinflusst wird). (11)Clin Nutr. 2021 Jan;40(1):181-189. DOI: 10.1016/j.clnu.2020.05.002. Es ist jedoch unklar, ob dies eine ursächliche Bedingung für die Anorexie darstellt. (12)Curr Opin Endocr Metab Res. 2021 Aug;19:46-51. DOI: 10.1016/j.coemr.2021.06.003. In einem berichteten Fall einer Anwendung beim Menschen hatte die Verbesserung der Keimzusammensetzung und Diversität des Darmmikrobioms nach Stuhltransplantation jedoch nicht zu einer Verbesserung der klinischen AN-Symptomatik geführt. (13)Microorganisms. 2019 Sep 10;7(9):338. DOI: 10.3390/microorganisms7090338.

Entzündungs- und Immunsystem

Bei der AN finden sich erhöhte Spiegel entzündungsfördernder Zytokine inkl. TNF-alpha, IL-1ß und IL-6. Es wird durch physischen und psychischen Stress sowie durch Toxine aus dem Magendarmtrakt durch ein verändertes Mikrobiom angeregt. (14)J Clin Med . 2019 Nov 8;8(11):1915. DOI: 10.3390/jcm8111915 .

Genetische Grundlagen

Die Anorexia nervosa tritt familiär gehäuft auf. Es wird eine genetische Grundlage der Essstörung angenommen. (15)Psychoneuroendocrinology. 2007 Feb;32(2):106-13 (16)Int J Child Adolesc health. 2009;2(2):153-164 (17)Isr J Psychiatry Relat Sci. 2002;39(4):262-70. PMID: 12756858. Eine Reihe von Untersuchungen stützten dies.
Beispiele:

  • Es wurden genetische Varianten von Ghrelin und BDNF in Patientinnen mit Anorexie gefunden, was die Hypothese nährt, dass genetischen Dispositionen vorliegen. (18)Psychoneuroendocrinology. 2007 Feb;32(2):106-13 (19)Brain Res Rev. 2010 Mar;62(2):147-64
  • Ein genetischer Defekt am Serotonin-Rezeptor wurde gehäuft festgestellt (20)Neuropsychobiology. 2006;53(1):33-9, der im Gehirn zu einer veränderten Hungerwahrnehmung führen könnte. Eine Beziehung von Serotonin als hypothalamischem Transmitter und Essverhalten ist bereits lange bekannt. (21)Drugs. 1990;39 Suppl 3:33-48
  • Es besteht eine Verbindung der AN zu dem Gen für den Delta-Opioid-Rezeptor, der im Belohnungssystem des Gehirns eine Rolle spielt. (22)Brain Res Rev. 2010 Mar;62(2):147-64. doi: 10.1016/j.brainresrev.2009.10.007. Epub 2009 Nov 18. … Continue reading
  • Ein genetischer Polymorphismus des Cannabinoid-Rezeptors im Gehirn wurde mit der Anorexia nervosa in Verbindung gebracht. (23)Hum Mol Genet. 2002;11(6):689–96
  • Ein mit der Anorexie assoziierter Genort ist mit Autoimmunkrankheiten assoziiert. (24)Arch Dis Child. 2018 Mar;103(3):279. doi: 10.1136/archdischild-2018-314750. Epub 2018 Jan 9. PMID: … Continue reading (25)2017 Dec;140(6):e20173060. doi: 10.1542/peds.2017-3060. Epub 2017 Nov 9. PMID: 29122974; PMCID: … Continue reading

Inzwischen fokussiert sich die Aufmerksamkeit bezüglich der prädisponierenden Genen auf Polymorphismen von drei besonders zentralen Kandidaten, der Gene für die Catechol-O-Methyltransferase, den „brain-derived neurotrophic factor“ (BDNF) und das Serotonin-Transporterprotein. (26)Eat Weight Disord. 2021 Jun;26(5):1323-1344. DOI: 10.1007/s40519-020-00978-5. Epub 2020 Aug 11. … Continue reading

Fehlfunktionen des Gehirns

Aus psychiatrischer Sicht von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung einer Anorexia nervosa ist eine Fehleinstellung des Belohnungssystems im Gehirn. Am Belohnungssystem sind insbesondere das mesolimbische und das nigrostriatale Dopaminsystem beteiligt. Endogene Opiode interagieren mit ihm. Bei abgemagerten Patienten mit AN ist eine erhöhte Opiodaktivität nachweisbar. (27)Nutrients . 2020 Aug 27;12(9):2604. doi: 10.3390/nu12092604.

Früher wurde angenommen, dass bei der Erkrankung eine Anhedonie (mangelhafte Ausprägung, Glück zu empfinden) vorhanden ist. Jetzt kommen Vorstellungen auf, nach denen das Belohnungssystem durchaus aktiv ist und Belohnungen verspricht. Belohnungen im Sinne einer Dopaminausschüttung im mesolimbischen System werden jedoch nur bei Hunger und Hyperaktivität vergeben. Dies bringt naturgemäß erhebliche Probleme für die Behandlung mit sich. (28)Nat Med. 1996 Jan;2(1):21-2. doi: 10.1038/nm0196-21. PMID: 8564826. (29)Nutrients. 2020 Sep; 12(9): 2604. Published online 2020 Aug 27. doi: 10.3390/nu12092604

Das Belohnungssystem reagiert besonders empfindlich sowohl in der Phase eines Untergewichts als auch nach Gewichtsausgleich; dies zeigt sich besonders, wenn eine erwartete Belohnung ausbleibt. (30)Am J Psychiatry . 2017 Jun 1;174(6):557-565. DOI: 1176/appi.ajp.2016.16060671. Epub 2017 Feb 24. Das Lernvermögen wird besonders durch Erfahrungen von ausbleibender Belohnung und durch eine übersteigerte Schadensvermeidung bestimmt. Beteiligt sind daran Verbindungen zwischen Striatum und Hypothalamus. (31)JAMA Psychiatry . 2018 Oct 1;75(10):1071-1080. DOI: 10.1001/jamapsychiatry.2018.2151. Das Ausbleiben von Belohnungen führt zu einer erhöhten Suizidalität. (32)Eat Weight Disord. 2022 Feb;27(1):307-315. DOI: 10.1007/s40519-021-01180-x.

Bei der ausgeprägten AN wird eine Reduktion der Astrozytenzahl, die mit 50% ausgeprägt sein kann, beobachtet. Der Mangel an Astrozyten kann mit psychopathologischen Reaktionsweisen, wie extremen Stimmungsschwankungen, Depressionen, Suizidalität, Schlafstörungen u. a. in Zusammenhang gebracht werden. Er perpetuiert das abnorme Verhalten und Empfinden der Betroffenen und verhindert wahrscheinlich in fortgeschrittenem Stadium einen psychotherapeutischen Therapieerfolg. (33)Adv Neurobiol. 2021;26:283-313. DOI: 10.1007/978-3-030-77375-5_12.

Typen der Anorexia nervosa

Es werden zwei Haupttypen unterschieden: der „binge/purge“-Typ und der „restrictor“-Typ. Beim „binge/purge“-Typ dominieren Essen und Entleeren (Erbrechen und Abführen), beim „restrictor“-Typ die primäre Restriktion der Kalorienzufuhr. Die Typen gehen im Krankheitsverlauf häufig ineinander über und konvertieren auch zur Bulimie, so dass die Typeneinteilung nicht unterschiedliche Entitäten anzuzeigen scheinen. (34)Am J Psychiatry. 2008 Feb;165(2):245-50 (35)Int J Eat Disord. 2009 Nov;42(7):590-4

Anorexia nervosa und Bulimie

Patientinnen mit Bulimie haben oft eine Anorexie-Vorgeschichte. Solche mit anamnestischer Anorexia nervosa haben eine schlechtere Prognose mit einem langwierigen Verlauf und dem Risiko für einen Relaps in eine Anorexie, während solche ohne Anorexie in der Anamnese eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine Normalisierung des Essverhaltens haben. (36)Int J Eat Disord. 2007 Nov;40 Suppl:S67-71 Es gibt jedoch auch Zweifel daran, dass die Bulimie mit der Anorexia nervosa in eine Erkrankungsrubrik mit gemeinsamer Ursache gehört. (37)Eur Eat Disord Rev. 2009 Jan;17(1):2-13

Klinisches Bild

Von einer Magersuch im Sinne einer Anorexia nervosa sind Mädchen nach der Pubertät und junge Frauen etwa 10 mal häufiger betroffen als Jungen und Männer. Im Vordergrund steht ein augenfälliges starkes Untergewicht mit einem BMI unter 17,5 und eine Weigerung der Nahrungsaufnahme, oft begründet mit Unverträglichkeit und Bauchkrämpfen. Den misstrauischen Betreuern fällt auf, dass die Patientin zunächst isst, dann aber lange auf die Toilette verschwindet. Auch besteht vielfach (bei bis zu 80%) eine Tendenz zu vermehrter körperlicher Aktivität, meist zum Herumlaufen oder gar Herumrennen. Solch eine Tendenz behindert den Erfolg einer Therapie.

Oft sind die Patientinnen sehr gewieft im Gespräch mit den behandelnden Ärzten. Ihre Antworten auf die Fragen hören sich z. T. einsichtig und nachvollziehbar an. Die scheinbare Einsicht und der oft vermittelte Wille zur Verhaltensänderung stehen aber oft genug in krassem Gegensatz zum tatsächlichen weiteren Verhalten.

Gelegentlich besteht eine Neigung zur Depression, die als Folge der Unzufriedenheit mit dem Körpergefühl und mit dem sozialen Beziehungsgeflecht aufgefasst werden kann.

Das klinische Bild ist abhängig vom Stadium der Mangelernährung und kann sehr vielfältig sein, da der Mangel an Kalorien, der Vitaminmangel und der Mangel an Spurenelementen unterschiedlich rasch symptomatisch werden können. Regelhaft besteht eine Amenorrhoe. (Dazu siehe unter Untergewicht, und Kwashiorkor). Ein Laxantienabusus ist häufig und mit einer erhöhten Suizidalität assoziiert. (38)Eat Weight Disord. 2022 Feb;27(1):307-315. DOI: 10.1007/s40519-021-01180-x.

In bis zu 33% der Fälle kommt es zu einer Remission. Allerdings bedeutet eine Anhebung des Gewichts nicht unbedingt eine kognitive Erholung, so dass Relapse (Wiederkommen der Magersucht) zu gewärtigen sind. (39)Nutrients. 2019 Aug 15;11(8):1907. DOI: 10.3390/nu11081907. PMID: 31443192; PMCID: PMC6723243.

Komplikationen

Eine Reihe klinischer Komplikationen sind zu gewärtigen, dazu gehören

  • kardiovaskuläre Komplikationen, insbesondere ein „Cardiac arrest“: im Rahmen eines Elektrolytungleichgewichts kann ein plötzlicher Herzstillstand (cardiac arrest) auftreten,
  • ein „Refeeding-Syndrom“ (mit Hypophosphatämie),
  • mangelhafte Knochenfestigkeit,
  • ein wahrscheinlich nicht reparabler Hirnabbau und Neigung zum Delir. (40)Int J Eat Disord. 2005;37 Suppl:S52-9; discussion S87-9. doi: 10.1002/eat.20118. PMID: 15852321. (41)J Adolesc Health. 1998 Mar;22(3):239-43. DOI: 1016/S1054-139X(97)00163-8. PMID: 9502012.

Die Mangelernährung kann rasch lebensbedrohlich werden. Etwa 10-20% der Patienten mit Anorexia nervosa versterben bei mangelnder Widerstandskraft im Marasmus; ähnliche klinische Bilder findet man im Endstadium einer nicht behandelten Sprue oder des Kwashiorkor.

Mit der Anorexie können weitere Krankheiten assoziiert sein. Dazu gehören psychische Störungen, wie Angststörung, Persönlichkeitsstörung, obsessive Verhaltensweisen, autistische Störungen, Hyperaktivitätserkrankungen wie ADHS und Autoimmunkrankheiten assoziiert sein. (42)Nutrients. 2019 Aug 15;11(8):1907. DOI: 10.3390/nu11081907. PMID: 31443192; PMCID: PMC6723243. (43)Pediatrics. 2017 Dec;140(6):e20173060. d DOI: 10.1542/peds.2017-3060. Epub 2017 Nov 9. PMID: … Continue reading Autoimmunologisch vermittelte neuropsychiatrische Krankheiten können durch Bakterieninfektion ausgelöst sein (Beisiel PANDAS, paediatric autoimmune neuropsychiatric disorders associated with streptococcal infections). (44)Arch Dis Child. 2018 Mar;103(3):279. doi: 10.1136/archdischild-2018-314750. Epub 2018 Jan 9. PMID: … Continue reading

Differenzialdiagnosen

Differentialdiagnostisch müssen eine Reihe von Erkrankungen ausgeschlossen werden. Dazu gehören:

  • die Coeliakie (einheimische Sprue),
  • sonstige Krankheiten des Verdauungssystems (z. B. Morbus Whipple, Pankreasinsuffizienz),
  • eine endokrinologische Erkrankung (z. B. eine Hyperthyreose),
  • eine konsumierende Krankheit (z. B. Tuberkulose, maligne Erkrankung) und
  • eine chronische Infektion (z. B.AIDS).

Diese Ursachen können meist bereits durch die Anamnese einfach ausgeschlossen werden. Auch leitet eine exzessive körperliche Aktivität bei Mädchen oder weiblichen Jugendlichen das Augenmerk auf eine AN.

Psychopathologische Ursachen: Um Gewicht abzunehmen, werden verschiedene Methoden gewählt. Sie können alle auch in Richtung einer AN interpretierbar sein. Zu ihnen gehören

  • eine drastische Reduktion der Nahrungszufuhr,
  • ein selbst induziertes Erbrechen,
  • die Einnahme von Abführmitteln, Appetitzüglern und Diuretika und
  • eine überschießende körperliche Aktivität zu Steigerung der Fettverbrennung.

Therapie der Anorexia nervosa

Die Behandlung der Anorexia nervosa unterscheidet sich wesentlich von der eines Untergewichts aus anderen Gründen. Es ist nicht damit getan, das Gewicht des Körpers in den Normbereich anzuheben sondern es muss eine tiefgreifende Störung des Antriebs, Nahrung aufzunehmen und des Körpergefühls überwunden werden. Die zentralen Störungen sind im Gehirn so tief verwurzelt, dass auch bei einem Erfolg, der sich nur in etwa 1/3 der Fälle einstellt, ein hohes Relapsrisiko zu gewärtigen ist, so dass nur etwa 10% nach 4 Jahren einen anhaltenden Erfolg aufweisen (s. o.). Wenn eine Hyperaktivität besteht, so behindert sie den Therapieerfolg entscheidend.

Familientherapie

Sie scheint wesentlich und Erfolg versprechend zu sein. (45)Cochrane Database Syst Rev. 2010 Apr 14;4:CD004780 Eine familientherapeutische psychologische Behandlung gilt als eine unverzichtbare begleitende Maßnahme der Einzeltherapie. Die Familienmitglieder sollten nicht überfürsorglich sein und auch nicht die Lage ignorieren. Sie sollten über die psychologischen und verhaltenstherapeutischen Methoden, die von psychiatrischer Seite eingeübt werden, informiert sein und unterstützend mitwirken.

Eine kognitive und verhaltenstherapeutische Behandlung

Sie stellt eine wesentliche Grundlage der Behandlung der AN dar. Drei Therapien haben sich etabliert: „Maudsley Anorexia Nervosa Treatment for Adults“ (MANTRA), „Cognitive Behaviour Therapy-Enhanced“ (CBT-E) und „Specialist Supportive Clinical Management“ (SSCM). Diese drei ausgearbeiteten Methoden einer Beeinflussung von Fühlen und Verhalten sind laut einer Metaanalyse von Studienergebnissen etwa gleich effektiv bezüglich einer positiven Gewichtsentwicklung. Die Rückfallquote ist ungewöhnlich hoch. Möglicherweise erklärt sich dies dadurch, dass zwar die psychischen Folgen angegangen werden können, nicht jedoch die genetisch zugrunde liegenden Veränderungen im Stoffwechsel der neuronalen Transmitter und ihrer Rezeptoren im Gehirn (s. o.).

  • Beispiel CBT-E (Cognitive Behaviour Therapy- Enhanced): Angestrebt wird eine Veränderung des Körperempfindens und eine Änderung des Verhaltens durch Verhaltenstraining (cognitive-behavioral therapy). Es wird ein Ernährungstagebuch geführt; es gibt Ernährungsregeln; thematisiert werden die diätetische Zurückhaltung der Patientin, ihr Untergewichtigsein sowie die Beziehung des Essverhaltens und der Stimmung. Diese Maßnahmen können zu einem Erfolg mit Gewichtszunahme führen, der über die intensive Therapiephase anhält; in eine Studie wurde von einer Gesundung in 33% berichtet. Mit einem Relaps muss jedoch gerechnet werden. (46)Curr Opin Psychiatry . 2020 Nov;33(6):534-541. DOI: 10.1097/YCO.0000000000000642 . (47)Ann Clin Psychiatry. 2008 Apr-Jun;20(2):79-86 (48)Psychother Psychosom. 2010;79(4):238-248

Intensivmedizinische Behandlung

kann bei erheblichem Untergewicht und Gefahr eines Stoffwechselzusammenbruchs mit Todesfolge erforderlich werden, gegebenenfalls im Notfall mit intravenöser Zwangsernährung unter tiefer Sedierung oder Narkose. Die juristischen Voraussetzungen müssen beachtet werden (vgl. Selbstbestimmungsrecht von Patienten).

Repetitive transkraniale Magnetstimulation

Bei schwerer und anhaltender Anorexie hat eine Behandlung durch hochfrequente transkraniale Magnetstimulation (rTMS) in einer Studie bei 5 von 12 Teilnehmern zu einer über 18 Monate anhaltenden Gewichtsnormalisierung führen (vs. 1 in der scheinbehandelten Gruppe). (49)Eur Eat Disord Rev. 2020 Nov;28(6):773-781. DOI: 10.1002/erv.2766. Epub 2020 Jul 24. PMID: 32706502.

Tiefe Hirnstimulation

Die “deep brain stimulation“ (DBS) mit einer implantierten Sonde erreicht unter dem Corpus callosum das Cingulum. Sie beeinflusst Ängstlichkeit und Stimmung günstig. In einer offenen Studie wurden Patienten, die im Mittel bereits über 18 Jahre herkömmlich ohne wesentlichen Erfolg behandelt worden waren, auf diese Weise therapiert und nachbeobachtet. Sie zweigten eine deutliche Besserung von Stimmung und Ängstlichkeit und eine Gewichtszunahme. (50)Lancet Psychiatry. 2017 Apr;4(4):285-294. DOI: 10.1016/S2215-0366(17)30076-7. Epub 2017 Feb 24. … Continue reading  Eine ähnliche Studie berichtet über eine Stimulation des Nucleus accumbens mit einem über mindestens 2 Jahre anhaltenden Erfolg, gemessen an der Zunahme des BMI und der Verbesserung der psychiatrischen Scores. (51)Brain Stimul. 2020 May-Jun;13(3):643-649. DOI: 10.1016/j.brs.2020.02.004. Epub 2020 Feb 6. PMID: … Continue reading

Aufbauernährung

In einer Refeeding-Phase muss auf eine Neigung zur Hypophosphatämie geachtet werden. Phosphat sollte frühzeitig substituiert und der Serumspiegel über 3,0 mg / dl gehalten werden. Bei einem Körpergewicht <70% des idealen Körpergewichts sollte die Kalorienzufuhr nur schrittweise erhöht werden.. (52)J Adolesc Health. 1998 Mar;22(3):239-43. DOI: 10.1016/S1054-139X(97)00163-8. PMID: 9502012.

Diätetischer Therapieansatz: Studien haben gezeigt, dass bei Patienten mit Essstörungen inkl. der Anorexia nervosa die Störung des bakteriellen Gleichgewichts im Darm (Dysbiose) durch eine probiotischen Supplementierung normalisiert werden kann. Da sich dadurch viele Einflüsse auf den Körper ändern, wird auf eine theoretisch günstige Wirkung auf den Krankheitsverlauf geschlossen. Sie wird daher als eine vorbeugende Begleittherapie vorgeschlagen. (53)Int J Mol Sci. 2021 Feb 26;22(5):2351. DOI: 10.3390/ijms22052351. Bisher liegen keine Hinweise darauf vor, dass sich auch die AN-Symptomatik dadurch bessert.


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Verweise

 


Autor der Seite ist Prof. Dr. Hans-Peter Buscher (siehe Impressum).


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Literatur[+]