Grippemittel

Artikel aktualisiert am 12. Juni 2023

Grippemittel sollen einer Infektion mit Grippeviren vorbeugen oder den Krankheitsverlauf der Influenza abschwächen. Zugelassen zur Influenza-Behandlung und Postexpositionsprophylaxe sind Neuraminidase-Inhibitoren und Polymerase-Inhibitoren (Stand 2023). (1)Antiviral Res. 2023 Feb;210:105499. doi: 10.1016/j.antiviral.2022.105499

Antiviral wirkende Medikamente haben sich wegen unzureichendem Wirkungs-Nebenwirkungsprofil bisher nicht als praktikabel herausgestellt. Das pandemische (H1N1) 2009-Influenzavirus ist resistent gegen Amantadin und Rimantadin (hemmen das Freisetzen von Erbinformationen der Viren in infizierten Zellen, uncoating). (2)Cochrane Database Syst Rev. 2014 Nov 21;2014(11):CD002745. doi: 10.1002/14651858.CD002745.pub4

Unspezifisch wirkende Mittel zur Symptommilderung gehören nicht zu Grippemitteln im engeren Sinn.


Grundlagen

Die echte Grippe (Influenza) ist eine Viruskrankheit, die sich wiederkehrend weltweit epidemisch (pandemisch) ausbreitet. Die Viren zeichnen sich durch eine hohe Mutationsrate aus, so dass sie durch Typwechsel dem Immunsystem immer wieder entkommen und trotz Impfung in Abständen immer wiederkehrend eine mehr oder weniger heftige Grippewelle auslösen können. Impfungen sind typenspezifisch und bewirken nicht gegen alle Mutanten einen Schutz.

Allen Viren ist gemeinsam, dass sie über die Wirkung einer viruseigenen Neuraminidase, einem Enzym, das die Schleimhäute für die Virusinvasion angreifbar macht, in den Körper eindringen sowie nach ihrer intrazellulären Vermehrung die infizierten Zellen wieder verlassen können. Eine Hemmung dieser zentralen Schritte einer Infektion wäre, so die Hypothese, ein Durchbruch in der Bekämpfung der Pandemie, der für alle Typen der Influenzaviren wirksam wäre.

Zu den am häufigsten verwendeten Grippemitteln gehören Neuraminidase-Hemmer. Neuraminidasen sind Enzyme, die Neuraminsäure (Sialinsäure) von Glykoproteinen der Zelloberflächen abspalten und so das Passieren von Grippeviren  vorbereiten. Neuraminidasen befinden sich hauptsächlich auf der Oberfläche von Influenza-A- und -B-Viren. Neuraminidase-Inhibitoren binden kompetitiv an sie, was die Freisetzung der Viren aus der Wirtszelle nach der Infektion verhindert. Eine Arzneimittelresistenz wurde als unwahrscheinlich angesehen, wird aber beobachtet. (3)Infect Disord Drug Targets. 2013 Feb;13(1):34-45. doi: 10.2174/18715265112129990006

Die beiden auf dem Markt befindlichen Grippemittel Oseltamivir (Tamiflu®) und Zanamivir (Relenza®) bewirken eine Hemmung der Virusneuraminidase. Die von den Herstellerfirmen propagierte Wirksamkeit hat zu einem erheblichen Umsatz geführt, der in den letzten Jahren trotz skeptischer Stimmen zunahm. Die Angst vor der Schweinegrippe 2009 ließ den Umsatz sogar „explodieren“.

Studienergebnisse

Inzwischen ist eine Reihe von Studien zur Wirksamkeit von Grippemitteln erschienen. Ihre Ergebnisse sind in Cochrane-Zusammenfassungen und Metaanalysen gewertet worden.

Cochrane-Beurteilung 2012

Die Cochrane-Beurteilung der Studien zu Neuraminidasehemmern 2012 besagt, dass Oseltamivir und Zanamivir eine nur mäßige Verkürzung der Krankheitsdauer einer Grippe bei Kindern bewirkt, wobei die Studien nur relativ klein waren und nicht miteinander verglichen werden konnten. Oseltamivir verminderte die Häufigkeit einer akuten Mittelohrentzündung bei Kindern zwischen 1-5 Jahren, hatte aber als Nebenwirkung eine beträchtliche Steigerung des Risikos für Erbrechen. Aussagen zur Vorbeugung schwerwiegender Komplikationen, wie einer Lungenentzündung (Pneumonie), oder zur Krankenhauseinweisung bei Risikogruppen waren nicht möglich. (4) Cochrane Database Syst Rev. 2012 Jan 18;1:CD002744

Studienauswertung 2013

Unter den vielen veröffentlichten Studien wurden 9 eine hohe Qualität bescheinigt. Die Wirksamkeit der beiden Neuraminidase-Inhibitoren zur Grippeprophylaxe wurde zwischen 64% und 92% und die absolute Reduktion des Gripperisikos wurde zwischen 1,2 und 12,1% gefunden. Befunde zur Reduktion von Antibiotika waren uneinheitlich. Oseltamivir-Studien berichteten über Übelkeit, Erbrechen und Durchfall als signifikante Nebenwirkungen; Zanamivir-Studien berichteten dagegen über keine solche Nebenwirkungen. Es wird aus allen Ergebnissen geschlussfolgert, dass das Risiko einer Virus-Resistenz, die Nebenwirkungen und die Kosten den geringen Vorteil von Oseltamivir oder Zanamivir bei gesunden Personen übersteigen. Zudem wurden auch keine relevanten Vorteile bezüglich von Komplikationen von Risikopatienten nachgewiesen. (5)PLoS One. 2013;8(4):e60348

Cochrane-Beurteilung 2014

Die Cochrane-Beurteilung der Studien zu Neuraminidasehemmern 2014 besagt, dass Oseltamivir und Zanamivir nur geringe und unspezifische Effekte auf die Minderung der Grippesymptome bei Erwachsenen und Kindern aufweisen. Oseltamivir reduzierte die Zeit bis zur ersten Symptomlinderung um 16,8 Stunden von 7 auf 6,3 Tage. Zanamivir reduzierte diese Zeit um 0,60 Tage. Oseltamivir hatte keinen Einfluus auf die Rate von Krankenhauseinweisungen. Weder Oseltamivir nonch Zanamivir reduzierten die Rate schwerwiegender Komplikationen, auch nicht die einer radiologisch verifizierten Pneumonie. Für Zanamivir wurde eine signifikante Reduktion des Risikos einer Bronchitis bei Erwachsenen beschrieben (um 1,8%), nicht dagegen für Oseltamivir. Beide Substanzen reduzierten nicht das Risiko einer Mittelohrentzündung (Otitis media). Eine Infektionsprophylaxe mit Oseltamivir reduzierte das Risiko einer symptomatischen Grippe um 3,05%, Zanamivir um 1,98%. Für Oseltamivir wurden beachtenswerte Nebenwirkungen festgestellt: bei Erwachsenen eine Erhöhung des Risikos für Übelkeit, Erbrechen (um 4%) und psychiatrische Symptome und bei Kindern für Erbrechen. Diese Nebenwirkungen waren für Zanamivir, das schlechter resorbiert wird, geringer. Die Autoren raten zusammenfassend zu einer sorgsamen Abwägung zwischen Vorteil und Nebenwirkungen und bemerken zum Schluss, dass der von den Herstellern angegebene Influenzavirus-spezifische Wirkmechanismus nicht zur klinischen Wirksamkeit passt. (6)Cochrane Database Syst Rev. 2014 Apr 10;4:CD008965

Metaanalysen 2016

Oseltamivir beschleunigt laut einer Metaanalyse von Studien bei Erwachsenen mit Grippe die Besserung klinischer Symptome. Es senkt den Antibiotikaverbrauch von 8,7% auf 4,9% und die Krankenhauseinweisungen von 1,7% auf 0,6%. Dagegen stieg die Wahrscheinlichkeit für Übelkeit von 6,2% auf 9,9% und von Erbrechen von 3,3% auf 8,0% an. Neurologische oder psychiatrische Nebenwirkungen wurden nicht berichtet. (7)Lancet. 2015 Jan 29. pii: S0140-6736(14)62449-1. doi: 10.1016/S0140-6736(14)62449-1

Oseltamivir und Zanamivir führen bei Erwachsenen zu einer nur geringfügigen Verkürzung der Zeit bis zur ersten Linderung der Grippesymptome. Die Nebenwirkungen betreffen Übelkeit, Erbrechen, psychiatrischen Ereignisse und Erbrechen. Oseltamivir senkt nicht die Mortalität von 2009A/H1N1-Influenza. Als Prophylaxe können Neuraminidaseinhibitoren die symptomatische Grippe möglicherweise etwas reduzieren. (8)Health Technol Assess. 2016 May;20(42):1-242. doi: 10.3310/hta20420

Peramivir – intravenöse Einmaldosis

In einer Studie betrug die mittlere Dauer der Influenzasymptome unter  300 mg Peramivir, 600 mg Peramivir und Oseltamivir  78,0, 81,0 und 81,8 Stunden (also nur eine Verbesserung um fast 4 Stunden). Die Nebenwirkungsrate war gegenüber oralen Medikamenten etwas geringer. (9)Antimicrob Agents Chemother. 2011 Nov;55(11):5267-76. doi: 10.1128/AAC.00360-11

Baloxavir

Baloxavir-Marboxil (Prodrug von Baloxavir, zugelassen als Xofluza) hemmt die Influenza-Cap-abhängigen Endonuklease und verhindert die Transkription viraler mRNA. (10)Curr Opin Virol. 2019 Apr;35:14-18. doi: 10.1016/j.coviro.2019.01.006 (11)Med J Armed Forces India. 2022 Apr;78(2):125-130. doi: 10.1016/j.mjafi.2021.09.005 In einer Studie führte eine Einzeldosis zu einer Linderung der Grippesymptom und einer Reduzierung der Viruslast nach einen Tag, die der von Placebo und Oseltamivir geringfügig überlegen war. Die Verträglichkeit war gut. (12)N Engl J Med. 2018 Sep 6;379(10):913-923. DOI: 10.1056/NEJMoa1716197

Verweise

 


Literatur

Literatur
1Antiviral Res. 2023 Feb;210:105499. doi: 10.1016/j.antiviral.2022.105499
2Cochrane Database Syst Rev. 2014 Nov 21;2014(11):CD002745. doi: 10.1002/14651858.CD002745.pub4
3Infect Disord Drug Targets. 2013 Feb;13(1):34-45. doi: 10.2174/18715265112129990006
4 Cochrane Database Syst Rev. 2012 Jan 18;1:CD002744
5PLoS One. 2013;8(4):e60348
6Cochrane Database Syst Rev. 2014 Apr 10;4:CD008965
7Lancet. 2015 Jan 29. pii: S0140-6736(14)62449-1. doi: 10.1016/S0140-6736(14)62449-1
8Health Technol Assess. 2016 May;20(42):1-242. doi: 10.3310/hta20420
9Antimicrob Agents Chemother. 2011 Nov;55(11):5267-76. doi: 10.1128/AAC.00360-11
10Curr Opin Virol. 2019 Apr;35:14-18. doi: 10.1016/j.coviro.2019.01.006
11Med J Armed Forces India. 2022 Apr;78(2):125-130. doi: 10.1016/j.mjafi.2021.09.005
12N Engl J Med. 2018 Sep 6;379(10):913-923. DOI: 10.1056/NEJMoa1716197