[vc_row][vc_column][vc_column_text]Vortrag „Vom Kolonialismus zur Entwicklungshilfe“, eine kritische Betrachtung (von Friedrich Kluge, Freiburg)

Wir Ärzte für die Dritte Welt arbeiten in der Regel in ehemaligen europäischen Kolonien und verstehen uns, neben unserer unmittelbaren humanitär-medizinischen Hilfe auch als eine an Entwicklungshilfe beteiligte Organisation (Brunnenbau, Schulen …).
Da liegt es nahe, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was es bedeutet, in ehemaligen Kolonien zu arbeiten und was es heute, 50 Jahre nach deren Befreiung mit sog. Entwicklungshilfe auf sich hat.
Bei meinen Einsätzen in Kalkutta und Nairobi hatte ich im Kollegenkreis Gelegenheit zu erleben, wie unterschiedlich wir Europäer mit Mitarbeitern und Beschäftigten in jenen Ländern umgehen. Die zwei Extreme waren: äußerst liebevolles – aber auch herablassendes, aggressives Verhalten, was zeigt, wie schwer es sein kann, sich richtig einzuordnen. Auch das war für mich ein Motiv, näher zu betrachten, was es mit dem Kolonialismus und seinen Folgen auf sich hat.

Ich trage daher in Auswahl Fakten und Überlegungen zum Kolonialismus vom 19. Jahrhundert bis heute vor. Dabei sollen nicht so sehr die Fakten als solche, sondern die Hintergründe und die geistigen Voraussetzungen angesprochen werden. Dieser Zeitraum ist von der modernen historischen Forschung gut untersucht und dokumentiert – nicht dagegen das Großprojekt Entwicklungshilfe, das seit der Befreiung der Kolonialstaaten im Gange ist und sich zur Zeit sowohl auf Seiten der reichen Geberländer wie bei den armen Entwicklungsländern in einem starken kritischen Diskurs befindet.

Kolonialismus

Kolonialismus ist eine besondere Ausdrucksform der Weltbeherrschung durch ausschließlich europäische Länder. Dieses klassische Zeitalter des Kolonialismus begann mit Kolumbus und endete mit der Dekolonisation Afrikas 1960.

Ein erster Höhepunkte der kolonialen Beherrschung war die karibische Plantagenökonomie im 17. und 18. Jahrhundert, verbunden mit den größten Sklavenimporten aus Afrika und höchsten Gewinnen für die Mutterländer. Ein zweiter Höhepunkt erfolgte in einer neuen Phase der Aggressivität der europäischen Staaten mit der Okkupation Afrikas nach 1854 (The scramble for Africa). Dies führte zur Aufteilung des Kontinents unter den europäischen Großmächten mit der rücksichtslosen Verschmelzung von ca. 10 000 politischen Einheiten auf bloße 40, heute 53 Länder.

Aufs Ganze gesehen gibt es keine Geschichte „des“ Kolonialismus, sondern nur eine Vielzahl von Geschichten einzelner Kolonien – man kann aber resümieren, dass um 1914 68% der Fläche des Weltterritoriums aus Kolonien bestand, dazu noch 11% Halbkolonien und nur zu 21% aus unabhängigen Staaten. Die Bevölkerung der Erde war zu dieser Zeit zu 60% kolonisiert, was ca. 600 Millionen entsprach, davon 120 Millionen in Afrika. Im Zeitraum des Kolonialismus betrug die Zahl der weißen Bevölkerung auf der Erde nie mehr als 23%, heute sind es nur noch 13%.

Wie eine Kolonisierung ablief

Wir wenden uns jetzt den Fragen zu, wie eine Kolonisierung ablief und welcher Geist die Kolonisatoren beherrschte, welche Antriebe sie hatten und welche Rolle die Kirchen und ihre Missionare dabei spielten.

Der Vorgang von der „Entdeckung“ bis zum Ausbau einer Kolonie war ein „allmählicher“. Die historische Forschung hat hierfür acht Phasen herausgearbeitet:

  • Entdeckung und Erkundung – meist schon mit Gewaltanwendung verbunden – wer aber kennt nicht die Namen von Nachtigall und Schweinfurt von Schliemann, Stanley oder Livingstone und Amundsen oder Scott, deren Berichte meine Generation als junge Menschen mit Spannung gelesen haben.
  • Sammlung von Ressourcen an der Küste
  • Tauschhandel mit Einheimischen durch Kaufleute
  • Plünderungen und militärische Aktionen im Binnenland, verbunden mit Ausstellung von sog. „Schutzbriefen“
  • Stützpunktsicherung verbunden mit starker Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung
  • Imperiale Besitznahme, Stationierung erster offizieller Repräsentanten mit Entrechtung der einheimischen Bevölkerung. So führte die Wirtschaftsform oft zu Zwangsarbeit, z.B. auf dem geraubten fruchtbaren Land der englischen Riesenfarmen in Kenia, wo bis heute Lord Delarmere dafür ein geläufiger Begriff ist. Für die Einheimischen war dies mit dem Verlust des Zugangs zu eigenem Boden verbunden, was wiederum zu irreversibler Verarmung und letztlich in die Slums führte.
  • Ansiedlung nicht-militärischer Emigranten und Missionare
  • Ausbau eines kompletten kolonialen Herrschaftsapparates.

Dies ist ein Schema, von dem es viele Möglichkeiten der Abweichung gab: Klima, Tropenkrankheiten, Widerstände und zeitliche Verläufe waren sehr unterschiedlich. Eines aber kennzeichnet die Kolonialnahme immer: Sie war stets mit Gewalt und täglicher Gewaltanwendung verbunden und die geführten Kolonialkriege unterschieden sich drastisch von den in Europa geführten Konflikten: Es ging dabei immer um den totalen Sieg und die dauerhafte Unterjochung der unterlegenen Bevölkerung, was oft auch mit Völkermord verbunden war.

Koloniale Verbrechen

In diesem Zusammenhang sollen von vielen kolonialen Verbrechen zwei Beispiele genannt werden: einerseits die deutschen Gräuel in Südwestafrika 1904 bis 1907, andererseits die nicht minder schlimmen im Kongo, der belgischen Privatkolonie König Albert II.

In der deutschen Kolonie „Südwest“, dem heutigen Namibia, kam es nach der Landnahme und den entsprechenden Herabwürdigungen zum Aufstand der Hereros und Namas – Hottentotten genannt – gegen die deutschen Siedler. Das Militär unter ihrem General von Trotha richtete daraufhin als Vergeltung bei den Einheimischen eine Katastrophe an, die im Völkermord endete. Bewusst in die Wüste getrieben, verhungerten und verdursteten Vieh und Menschen, von 80 000 überlebten nur ca. 15 000, und diese kamen in Konzentrationslager und auf Atlantikinseln, wo sie unter schlimmsten Bedingungen vegetierten. Es ist übrigens genau untersucht, dass an diesen militärischen Verbrechen Ärzte als „Profiteure“ rege beteiligt waren.

Nachdem der belgische König 1885 den „Kongo“ in seinen Besitz gebracht hatte, ließ er das Land – auch für damalige Verhältnisse in beispielloser Grausamkeit – ausbeuten und plündern: Geiselnahme, Vergewaltigungen (in allen Kolonien), Misshandlungen, Auspeitschungen, Hände abhacken und Morde waren Instrumente, um den Einwohnern Kautschuk (Reifen) und Elfenbein abzupressen. Bis 1908 war die Bevölkerung um etwa 10 Millionen Menschen vermindert.
Ich möchte hier auf zwei sehr eindrucksvolle Bücher hinweisen, die das Geschehene plastisch in einer modernen Sichtweise erzählen: Uwe Timm konstruiert in dem Roman „Morenga“ (es ist der Name des Nama-Anführers im Südwestaufstand) die Zustände von 1904 bis 1907; Joseph Conrad schildert in „Herz der Finsternis“ den Horror im Kongo.

Den beiden Beispielen haften koloniale Folgen bis in die heutige Zeit an. Der deutsche Staat hat sich bisher nicht für den Völkermord in Namibia entschuldigt – man fürchtet Wiedergutmachungsforderungen – und im Kongo hat sich die Lust auf Bereicherung besonders bei denen krass erhalten, die weiter die Bodenschätze, z.B. Coltan-Erz, das in jedem Handy vorhanden sein muss, ausbeuten und zu ihren Preisen und Konditionen auf den Weltmarkt bringen. Verbunden ist dies bis zum heutigen Tag mit immerwährenden Lokalkriegen und mehr als 1 Million Flüchtlingen; die ehemalige amerikanische Außenministerin Albright sprach in diesem Zusammenhang vom 1. Weltkrieg Afrikas.

Ideologie der Kolonisation

Wir wenden uns jetzt der Ideologie der Kolonisation zu und fragen, ob die Invasoren außer aggressivem Denken und wirtschaftlicher Gier noch andere Beweggründe für ihr Handeln hatten. Wir wollen wissen, welche es waren und außerdem, ob wir davon heute noch Spuren im politischen Umgang mit den Menschen auf den Philippinen, in Indien, in Afrika oder Südamerika finden. Historiker haben dazu Gesichtspunkte des Kolonialismus herausgearbeitet, die sie als beispiellos in der gesamten Weltgeschichte ansehen. Solche sind:

  • die Expansion einer Gesellschaft über ihren angestammten Lebensraum hinaus,
  • hat es sich immer um ein Herrschaftsverhältnis gehandelt; eine Ordnung, die auf Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Heuchelei aufgebaut war – eben „dem schrankenlosen Egoismus der größten zivilisierten Nationen“ (Jürgen Osterhammel);
  • die Beherrschung durch ein Volk aus einer anderen Kultur,
  • die Beraubung der indigenen Gesellschaften von ihren eigenen historischen Entwicklungen und die Umpolung auf die wirtschaftlichen Interessen des Kolonialherren.

Die europäische Expansion hat an keiner Stelle eine „hellenistische“ Kultursynthese, wie sie von Alexander dem Großen bis hin zur Zeit des Neuen Testamentes festzustellen ist, hervorgebracht!

Dagegen hat die spezifische Bewusstseinshaltung des Kolonialismus ganz andere Merkmale. Man empfand sich als Beitrag zu einem göttlichen Heilsplan der Heidenmission. Man verstand sich als weltliches Mandat zur „Zivilisierung“ der „Barbaren“ oder „Wilden“ – und das Ganze als eine privilegiert zu tragende „Bürde“ des weißen Mannes! All dem lag die tiefe Überzeugung von der eigenen kulturellen Höherwertigkeit zugrunde und somit wurden die „Vielen“ von den „Wenigen“ unter ein geistiges und politisches Joch gebeugt.

Anmerkung zur Missionskultur

Noch eine Anmerkung zur Missionskultur; die Kirchen und die im 19. Jahrhundert blühenden Missionsgesellschaften (z.B. Basler Mission) haben die koloniale Annexion nachhaltig unterstützt, sie haben die angestammte Kultur bedroht und mitgeholfen, sie zu zerstören – aber, und das ist die Dialektik der Geschichte – durch ihre erzieherischen Aufgaben in Schulen haben sie auch westliche Kulturwerte übermittelt. Dazu gehörten die Menschenrechte, dass vor dem Gesetz alle gleich sind, und die Unabhängigkeit von Gerichten.

Als Fazit kann man schon hier sagen, dass die koloniale Erwerbung überall zu politischer, sozialer und biologischer Destabilisierung mit entsprechend schlimmen Folgen für die einheimische Bevölkerung führte. Legis Débray hat es auf den Punkt gebracht und so ausgesprochen: „Sie haben den Tropenhelm abgenommen. Doch der Kopf darunter bleibt kolonialistisch.“
Man kann diesen Satz besser verstehen, wenn man eine Brücke schlägt vom Anfang des Kolonialismus, sagen wir um 1885 (Afrikakonferenz) über die Entkolonialisierung 1960 bis zum Neokolonialismus in heutiger Zeit. Die ganze Kolonialpolitik war ja darauf ausgerichtet, z.B. den Afrikanern ein Gefühl der Minderwertigkeit zu vermitteln. Wir hielten und halten uns und unsere Zivilisation immer für etwas „besseres“, eine Ideologie, die auch der Völkerbund, Vorläufer der UNO, nach dem ersten Weltkrieg vertrat, als er die sog. Mandate z.B. über Palästina und den Irak vergab – mit welchen Folgen bis heute!

Politische Befreiung – wirtschaftliche Abhängigkeit

Das Achsenjahr 1960 brachte zwar für die Afrikanischen Staaten die politische Befreiung, nicht jedoch die wirtschaftliche. Die ausbeuterischen Verflechtungen mit den Konzernen der Kolonialstaaten bestanden und bestehen bis heute fort, so fördert der französische Ölmulti „Total“ sein Öl vor der Küste Angolas. Dies ist ein Beispiel für viele Bodenschätze Afrikas, die mit Milliardengewinnen von Konzernen und korrupten Machthabern ausgebeutet werden, jedoch nicht einer völlig verarmten Bevölkerung, die Hunger und Krankheiten erleidet, zugute kommen. Jean Ziegler, der scharfe Genfer Kritiker der westlichen Arroganz, geißelt dies als Verhalten von Oligarchien des westlichen Finanzkapitals, die ihr Gebaren der Weltwirtschaft aufzwängen und die das Produkt einstiger Unterdrückungssysteme, nämlich der Sklaverei und der kolonialen Ausbeutung, sind. In seinem Buch „Der Hass auf den Westen“ wirft er uns Taubheit, Blindheit und Stummheit gegenüber den Forderungen des Südens vor.
Wie geht die Geschichte heute aktuell weiter? „We are here because you were there” demonstrieren die Pakistani in London – auf diese Weise hat der Kolonialismus auch die Migrationsbewegungen in die reichen – zunächst die Mutterländer – ausgelöst. Es scheint eine Völkerwanderung auf unser eingemauertes Europa zuzukommen, das sich mit vielerlei Unrecht und Menschenrechtsverletzungen (Pro Asyl) versucht, dagegen zu wehren, wofür eine vernünftige politische Lösung im Augenblick nicht in Sicht ist.

Entwicklungshilfe

Die Beurteilung der Entwicklungshilfe ist insofern schwieriger, als wir mitten in einer kontroversen Diskussion stehen.

Entwicklungshilfe sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass eine Milliarde Menschen Hunger leiden und unterernährt sind. Sie soll als normale Wirtschaftshilfe für strukturschwache Regionen betrachtet werden, nur dass diese Regionen eben außerhalb der eigenen Landesgrenzen liegen. Damit sollte die Bevölkerung Grundbedürfnisse wie Nahrung, sauberes Wasser, Unterkunft, Gesundheitsfürsorge und Zugang zu Bildungseinrichtungen bekommen. Notwendige Infrastrukturen wie Schiene, Strom, Telekommunikation gehören im Weiteren dazu. Dies sind ehrgeizige Ziele der reichen Geberländer, die sie auf ihren Konferenzen beschlossen haben; bis 2015 sollte der Hunger in der Welt halbiert sein.

Für die Entwicklungshilfe und deren Erfolge sprechen aus den Augen der reichen Geberländer aber nicht nur humanitäre Gründe, sondern man hebt auch rein politische Argumente hervor, denn extreme Armut zerstört Hoffnung und führt zu einer explosiven Mischung aus Instabilität, Verzweiflung und Gewalt, wie wir sie z. B. im Tschad, Sudan, Palästina und Afghanistan finden können.

Im Folgenden zeige ich die Argumente Pro und Kontra Entwicklungshilfe auf.

Pro Entwicklungshilfe

Die Entwicklungshilfegelder sollen den ärmsten Ländern aus der Armutsfalle helfen. Diese Armutsfalle bedeutet, dass die Menschen kein Geld besitzen und somit keine Kreditwürdigkeit besteht. Geschäfte sind nicht möglich, dadurch sind die Menschen zur Inaktivität verurteilt, was weitere Armut nach sich zieht.

Ein besonders erfolgreiches Projekt, das auch mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden ist, muss hier genannt werden: „Gramin – eine Bank für die Armen der Welt“ heißt der Buchtitel von Muhamal Yunus aus Bangladesh. Seine Banken vergeben Mikrokredite, hauptsächlich an Frauen, die es ermöglichen, aus dem Teufelskreis der Armut auszubrechen. Mit den gewährten Krediten ist die Möglichkeit gegeben, ein kleines Unternehmen zu gründen und so den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Das sind Projekte, die Eigendynamik auslösen!

J.D. Sachs zieht – und mit ihm viele reiche Geberländer – eine andere Konsequenz, um den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen: Danach soll Entwicklungshilfe mit ihrem Geld aus dem Ausland der Schlüssel zur Lösung sein. So verständigten sich die reichen Geberländer (z.B. die G-8-Staaten) darauf, speziell auch für Afrika 0,7% ihres Bruttosozialproduktes für Entwicklungshilfe auszugeben. Allerdings klaffen politischer Wille und tatsächliche Hilfe weit auseinander. Auch private Organisationen wie „Brot für die Welt“, „Welthungerhilfe“ u.a. NGOs sind in diesem Sinne tätig: Immerhin fließen 16% des Entwicklungshilfeministeriums an diese Organisationen – für die es jedoch kaum eine Wirkungsprüfung gibt.

Kontra Entwicklungshilfe

Die heutige Kritik an den Milliardenvergaben der Entwicklungshilfe kommt sowohl aus den Geberländern als auch von den Empfängerländern selbst. Einer der stärksten Kritiker in Deutschland ist Rupert Neudeck, der die Argumente in seinem jüngsten Buch „Die Kraft Afrikas“ niedergelegt hat. Neudecks Kritik geht vom sog. Entwicklungshelfer-Gesetz (1969) aus. Darin heißt es: „Entwicklungshelfer ist, wer in Entwicklungsländern ohne Erwerbsabsicht Dienst leistet, um in partnerschaftlicher Zusammenarbeit zum Fortschritt der Länder beizutragen.“ Seine Kritik richtet sich dagegen, dass diese Entwicklungshelfer sozusagen Staatsangestellte sind, mit einer Ausstattung und Bezahlung, die skandalös hoch ist. Er meint damit die riesigen Apparate der „GTZ“ und der „Kreditanstalt für Wiederaufbau“. Wie Sie wissen, wird unsere Entwicklungshilfe gerade gestrafft und reformiert und, wie der Minister betont – die „politische Steuerungsfähigkeit“ wieder hergestellt.

Neudeck nennt diese Organisationen Entwicklungs-Maffia, die ein unersättliches Bedürfnis nach teuren Konferenzen und Papier haben und stellt fest, die Entwicklungshilfe der vergangenen Jahrzehnte habe keine positive Wirkung gehabt; sie habe im Gegenteil meistens Insuffizienz und Korruption gefördert – sogar korrupte Machthaber finanziert und stabilisiert – und letztlich sei die Entwicklung Afrikas dadurch gehemmt worden, weil seine eigenen Kräfte gelähmt worden seien. Sein Fazit in Kürze: „Die Entwicklungshilfe muss eine andere werden.“ Dazu stellt er zwei Forderungen für die Geberländer und die Afrikaner auf:

  • Durch unser Verhalten muss den Partnern klar gemacht werden, dass sie und nicht wir in erster Linie die Verantwortung für das Wohl ihrer Völker tragen: die Schlüsselrolle geben Armut müssen die Afrikanischen Regierungen selbst übernehmen.
  • Die Afrikanischen Partner müssen Eigenverantwortung beweisen.

Soviel zur Kritik aus Deutschland, aber in dieselbe Kerbe schlägt auch die Kritik, die aus Afrika kommt und die besonders akzentuiert und scharf der Kenianer James Shikwati ausspricht. Seine Forderung, kurz und bündig: „Schluss mit der Entwicklungshilfe!“ Sie verhindere die freie Entfaltung der afrikanischen Ökonomie. Seine Kritik in Einzelpunkten lautet: Entwicklungshilfe folge vor allem den ökonomischen und geostrategischen Interessen der Geber,

  • die Ziele der Entwicklungshilfe sind von den Gebern gesetzt,
  • die Afrikaner bleiben letztlich Zuschauer,
  • das Geld werde entlang von Patronagestrukturen vergeben – so finanziert die Entwicklungshilfe letztlich die Korruption in Afrika.

Den Schlüssel zum Erfolg sieht Shikwati nicht in mehr Geld, sondern in einer Änderung der inneren Einstellung, einer neuen Mentalität. Er plädiert für eine konsequente Öffnung der afrikanischen Märkte als attraktive Chance für heimische Unternehmen. Ohne seine Thesen im Einzelnen zu diskutieren, ist festzustellen: In seiner Radikalität bricht er ein Tabu. Er trägt damit dazu bei, eine überfällige, öffentliche und kritische Debatte über Entwicklungshilfe einzufordern und die Probleme offen zu diskutieren.

Shikwati ist nicht die einzige afrikanische Stimme, die sich in diesem Sinne äußert. Auch Dambisa Moyo aus Sambia, eine Harvard-Absolventin, die mit ihrem Buch „Dead Aid“ berühmt geworden ist, artikuliert: „Wir Afrikaner sind keine Kinder“. Ihre Kritik lautet: Der auf Mitleid und Almosen basierte Ansatz der westlichen Entwicklungshilfe ist gescheitert. In 50 Jahren sind zwei Billionen Dollar an Hilfe von reichen an arme Länder geflossen, aber dieses Modell hat keinen wirtschaftlichen Aufschwung gebracht. Dafür habe sich eine fatale Mentalität breit gemacht: Niemand wird bestraft, wenn er nicht innovativ ist, denn die Hilfe fließt trotzdem. Die Autorin setzt dagegen auf Außenhandel, Öffnung der Märkte, besonders auch mit China.

Wie soll es weitergehen?

Die Probleme der Entwicklungshilfe, für die es keine einfache Lösung gibt, müssen offen diskutiert werden. Fest steht wohl, Entwicklungshilfe muss konkretere Formen auf einer unteren Ebene annehmen, denn die Formel Mehr Geld ist mehr Entwicklung hat sich als falsch erwiesen.

Neudecks Arbeitskreis fordert, die Entwicklungsgelder nicht mehr als Budgethilfe z.B. an korrupte Regierungen zu vergeben, sondern nur noch als Kredite, so dass alle Menschen in Entwicklungsländern Zugang zu Geldern bekommen können. Besonders zu berücksichtigen sind weiterhin Faktoren wie Infrastrukturprojekte, Arbeit für viele Menschen, die Offenlegung von Einkünften und Bodenschätzen der Empfängerstaaten. Er weist aber auch darauf hin, dass emotionale Momente zu armen Ländern mitunter hilfreich sein können, um eine richtige Auswahl zu treffen. So schlägt er Uganda, Ruanda und Tansania vor. Wichtig seien weiterhin die Öffnung unserer Märkte sowie faire Handelsbedingungen. Immer wieder betont er, dass wir „unsere europäische Herrscherbrille abnehmen müssen, die den Blick z.B. auf Afrika verzerrt und unsere koloniale Vergangenheit projiziert, ohne dass uns das in unserer Überheblichkeit bewusst wird.“

Akute Katastrophenhilfe und medizinisch-humanitäre Einsätze sind von den Kritikern der Entwicklungshilfe ausdrücklich ausgenommen, zumal es sich dabei auch aufs Ganze gesehen um geringe Beträge handelt. Dennoch ist es ein schwieriges Unterfangen, sich als einzelner Arzt und als Organisation Ä3w für „mehr Gesundheit in der einen Welt“ (Motto des Würzburger Instituts) – richtig, korrekt und angemessen zu verhalten.

Ich nenne einige Eckpunkte, die jeder Einzelne in seiner Weise bedenken – vielleicht besser noch beherzigen – kann:

  • sinnvolle Vorbereitung (Landeskunde, Geschichte, Religion, Sprache…)
  • Achtung, d.h. Hoch- und Wertschätzung, Respekt den Menschen und der Kultur gegenüber
  • Toleranz gegenüber Sitten- und Alltagsgebräuchen
  • sich einer auf Tatsachenkenntnis beruhenden Schuld bewusst sein

Solche Überlegungen münden dann in praktisches Verhalten, das man durchaus auch abends im Kollegenkreis diskutieren kann.
Als Organisation sollten wir auf eine möglichst enge Verzahnung von westlich-pharmazeutischer Medizin und einheimischen medizinischen Vorstellungen und Praktiken hin arbeiten. Dazu sind unsere Mitarbeiter die lebendigen Scharniere, da sie mit den lokalen Besonderheiten vertraut sind. Wäre es nicht an der Zeit, frage ich, unsere Strategie (Ä3w) zu überdenken, gar zu reformieren? Denn, das muss man wohl sagen, „das Sagen“ haben in unseren Projekten nach altem europäischem Muster, wir. Wäre es nicht zum Beispiel angebracht, wir nähmen einen einheimischen Arzt mit vollem Landesgehalt, jeweils für ein halbes bis ein Jahr in unser Team auf und schickten ihn in dieser Zeit auch zu einer Fortbildung z.B. ans Würzburger Institut? Um solchen Überlegungen eine Basis zu geben, habe ich mein Referat vorbereitet.

Literatur

  • Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt 1955; darin das Kapitel 7 über Imperialismus, S. 288-335
  • Joseph Conrad, Herz der Finsternis, viele Ausgaben
  • Wolfgang U. Eckart, Medizin und kolonialer Rassenkrieg: Die Niederschlagung des Herero-Nama-Aufstands im Schutzgebiet Deutsch-Südwest-Afrika (1904-1907), S. 59-71; in: Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001
  • Adam Hochschild, Schatten über dem Kongo, Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen, Stuttgart 2000
  • Horst Köhler (Hg), Nachbar Afrika, Hamburg 2010
  • Le Monde diplomatique, Afrika. Stolz und Vorurteile, 2009, Nr. 5
  • Rupert Neudeck, Die Kraft Afrikas. Warum der Kontinent noch nicht verloren ist, München 2010
  • Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen Folgen. München 2003
  • Jeffrey D. Sachs, Wohlstand für Viele, München 2008
  • Volker Seitz, Afrika wird arm regiert oder wie man Afrika wirklich helfen kann, München 2010
  • Uwe Timm, Morenga, München 2000
  • Jean Ziegler, Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren, München 2008

 


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