Alipogene tiparvovec

Artikel aktualisiert am 30. August 2022

Alipogene tiparvovec ist ein Medikament zur intramuskulären Gen-Therapie der familiären Lipoproteinlipase-Defizienz (familial lipoprotein lipase deficiency, LPLD), einer seltenen schwerwiegenden genetisch bedingten Fettstoffwechselstörung. Es wurde als Glybera® zugelassen.


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Das Wichtigste

Kurzgefasst
Alipogene tiparvovec (Glybera ® ) ist ein Gentherapeutikum zur Behandlung einer sehr seltenen familiären Form deutlich erhöhter Fettwerte im Blut. Es handelt sich um eine Neutralfette (Triglyceride). Die hohen Werte führen zu Bauchspeicheldrüsenentzündungen und „eruptiven Xanthomen“ (Fettknötchen der Haut, die aufbrechen können). Die Stoffwechselstörung beruht auf einem Gendefekt (LPL-Defizienz) und reagiert nur unzureichend auf die üblichen fettsenkende Medikamente. Bisher wurde die Gentherapie gut vertragen; sie wurde wegen mangelnder Nachfrage und dem hohen Preis („million dollar drug“) zurückgezogen. (1)Crowe, Kelly. „The million-dollar drug“. CBC News. Retrieved 18 November 2018.

LPL-Defizienz

Bei der sehr seltenenfamiliären Lipoproteinlipase-Defizienz, die autosomal-rezessiv vererbt wird, und nur bei etwa 1 auf 1 Mio Menschen Auftritt, kommt es wegen des mangelhaften Abbaus von Triglyceriden im Blut bei der Erkrankung zu einer Erhöhung triglyceridreicher Lipoproteine im Blut und Fettablagerungen in Haut (eruptive Xanthomatose) und Retina des Auges sowie zu gehäuften Episoden einer akuten Pankreatitis.

Behandlungsprinzip

Das Prinzip der Behandlung dieser seltenen angeborenen Stoffwechselstörung besteht darin, dass eine besonders günstige Variante des „gesunden“ Lipoproteinlipase-Gens (LPL(Ser447X)) über einen viralen Vektor in die menschlichen Zellen der Betroffenen eingeschleust wird und dort die Produktion funktionsfähiger Lipoproteinlipase (LPL) bewirkt. Als viraler Vektor wird ein modifiziertes, sich nicht vermehrendes (nicht replizierendes) Adenovirus-assoziiertes Virus (AAV1) benutzt, an welches diese Genvariante der Lipoproteinlipase angekoppelt wird. (2)Front Immunol. 2014 Mar 3;5:82. doi: 10.3389/fimmu.2014.00082

Alipogene tiparvovec: erstes erfolgreiches Gen-Therapeutikum

Alipogene tiparvovec ist das erste erfolgreiche Gen-Therapeutikum, das zur Behandlung einer angeborenen Stoffwechselstörung zur Verfügung steht. In Europa wurde es 2012 lizensiert, nachdem gezeigt werden konnte, dass es durch intramuskuläre Applikation zu einem lang anhaltenden signifikanten Abfall der Triglyceride im Plasma sowie einer Abnahme der Pankreatitis-Häufigkeit innerhalb der Beobachtung von 3 Jahren gekommen war. (3)Curr Opin Mol Ther. 2009 Dec;11(6):681-91

In einer Studie an 14 erwachsenen Patienten mit LPL-Defizienz konnte gezeigt werden, dass die Hälfte der Patienten einen über 40-prozentigen Abfall der Nüchtern-Triglyceride zwischen 3 und 12 Wochen erreichten. Die Triglyceridwerte gingen danach meist allmählich zur Ausgangsbasis zurück; allerdings wurden auch anhaltende Effekte beobachtet. (4)Gene Ther. 2013 Apr;20(4):361-9

Die Zulassung von Alipogene tiparvovec (Glybera®) stand anfangs auf der Kippe und erfolgte nach ursprünglicher Ablehnung wegen der geringen Behandlungszahlen erst nach weiteren Begutachtungsverfahren der EMA (European Medicines Agency), die sich schließlich von der signifikanten Verringerung der Pankreatitis-Komplikationen der LPL-Defizienz überzeugen ließ. (5)Mol Ther. 2012 Oct;20(10):1831-2. doi: 10.1038/mt.2012.194

Inzwischen sind Erfahrungen über einige Jahre gesammelt worden, die laut einer zusammenfassenden Darstellung eine Verbesserung der Triglyceridspiegel innerhalb 16-26 Wochen nach Verabreichung, eine anhaltende Verbesserung des postprandialen Chylomikronen-Stoffwechsels, eine anhaltende Expression funktionell aktiver Kopien des LPL(S477X) im Skelettmuskel, eine deutliche klinische Besserung der Pankreatitishäufigkeit und der Pankreatitis-bedingten Bauchschmerzen sowie eine allgemein relativ gute Verträglichkeit beschreibt. (6)Drugs. 2015 Feb;75(2):175-82

Falldarstellung: Eine Patientin mit schwerer Hypertriglyceridämie (im Mittel 3,465 mg/dL) und 37 Bauchspeicheldrüsenentzündungen innerhalb der letzten 25 Jahre und einer Lipid-Apherese 2x wöchentlich als Dauertherapie hat eine Behandlung mit Alipogene tiparvovec (40 Injektionen (1 × 1012 genome copies/kg in die Oberschenkelmuskulatur unter epiduraler Anesthesie und immunsuppressiver Therapie) erhalten. Die mittleren Triglyceridwerte sanken nach 3 Monaten um 52% auf 997 mg/dl. Über 18 Monate konnte die Plasmaperese unterbrochen werden. Ein Diätfehler führte – nach mehrmonatiger Pankreatitisfreiheit – zu einer neuerlichen Pankreatitis. (7) 2018 Apr;29(4):520-527. doi: 10.1089/hum.2018.007.

Bedeutung der Immunreaktion

Die bisherigen Beobachtungen zeigen, dass der Körper auf das modifizierte Virus immunologisch reagieren kann, und zwar auf das Capsid-Protein wie auf das transgene Produkt. Die Reaktionen beinhalten sowohl humorale Abwehrstoffe (Immunglobuline) als auch eine zelluläre Abwehr. Dennoch bleiben die transgene Expression und die klinische Effizienz der Gentherapie erhalten. Untersuchungen zur Wirksamkeit von Alipogene tipavovec mit und ohne gleichzeitige Immunsuppression erbrachten in etwa die gleiche Senkung der Serum-Triglyceride und der Chylomikron-Spiegel. (8)Atheroscler Suppl. 2010 Jun;11(1):55-60  (9)Proc Natl Acad Sci U S A. 2009 Sep 22;106(38):16363-8

Offene Frage: Leberkrebs?

Inzwischen wurde von Experimenten an Mäusen mit dem viralen Vektor AAV, an den das LPL-Erbgut gekoppelt wird, bekannt, dass das Risiko für Leberkrebs (hepatozelluläres Karzinom, HCC) steigt. Solange unbekannt ist, ob das Risiko auch für den Menschen gilt, wird eine Gentherapie, die das Adeno-assoziierte Virus als Träger benutzt, kritisch gesehen. (10)J Clin Invest. 2015 Feb;125(2):870-80. DOI: 10.1172/JCI79213 In Übersichtsartikeln über bisherige Erfahrungen beim Menschen wurde festgestellt, dass die Gentherapie gut vertragen wird; eine Krebsentstehung ist nicht berichtet worden. (11)Drugs. 2015 Feb;75(2):175-82. DOI: 10.1007/s40265-014-0339-9  (12)Hum Gene Ther. 2016 Nov;27(11):916-925. DOI: 10.1089/hum.2015.158  Neue Vektoren werden gesucht.


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Verweise

Literatur

  1. ? Mol Ther. 2013 Nov;21(11):1976-81. doi: 10.1038/mt.2013.226
  2. ? Front Immunol. 2014 Mar 3;5:82. doi: 10.3389/fimmu.2014.00082
  3. ? Curr Opin Mol Ther. 2009 Dec;11(6):681-91
  4. ? Gene Ther. 2013 Apr;20(4):361-9
  5. ? Mol Ther. 2012 Oct;20(10):1831-2. doi: 10.1038/mt.2012.194
  6. ? Drugs. 2015 Feb;75(2):175-82
  7. ? Atheroscler Suppl. 2010 Jun;11(1):55-60
  8. ? Proc Natl Acad Sci U S A. 2009 Sep 22;106(38):16363-8
  9. ? J Clin Endocrinol Metab. 2012 May;97(5):1635-44
  10. ? Front Immunol. 2014 Mar 3;5:82. doi: 10.3389/fimmu.2014.00082
  11. ? J Clin Invest. 2015 Feb;125(2):870-80

 


Autor der Seite ist Prof. Dr. Hans-Peter Buscher (siehe Impressum).


 


Literatur

Literatur
1 Crowe, Kelly. „The million-dollar drug“. CBC News. Retrieved 18 November 2018.
2 Front Immunol. 2014 Mar 3;5:82. doi: 10.3389/fimmu.2014.00082
3 Curr Opin Mol Ther. 2009 Dec;11(6):681-91
4 Gene Ther. 2013 Apr;20(4):361-9
5 Mol Ther. 2012 Oct;20(10):1831-2. doi: 10.1038/mt.2012.194
6 Drugs. 2015 Feb;75(2):175-82
7 2018 Apr;29(4):520-527. doi: 10.1089/hum.2018.007.
8 Atheroscler Suppl. 2010 Jun;11(1):55-60
9 Proc Natl Acad Sci U S A. 2009 Sep 22;106(38):16363-8
10 J Clin Invest. 2015 Feb;125(2):870-80. DOI: 10.1172/JCI79213
11 Drugs. 2015 Feb;75(2):175-82. DOI: 10.1007/s40265-014-0339-9
12 Hum Gene Ther. 2016 Nov;27(11):916-925. DOI: 10.1089/hum.2015.158