Gilbert-Meulengracht-Syndrom

Artikel aktualisiert am 23. September 2023

Das Gilbert-Meulengracht-Syndrom (engl.: Gilbert syndrome) ist eine hereditäre (autosomal rezessive) Transport- und -Stoffwechselstörung von Bilirubin in der Leber ohne eine zugrunde liegende Leberkrankheit und ohne eigenen Krankheitswert. Synonyme sind Icterus intermittens juvenilis, familiärer nicht hämolytischer Ikterus, funktionelle Hyperbilirubinämie, Morbus Meulengracht. (1)Drug Metab Rev. 2010 Feb;42(1):168-81. doi: 10.3109/03602530903209429

Gelbsucht


Das Wichtigste

Kurzgefasst
Das Gilbert-Meulengracht-Syndrom (vielfach als Morbus Meulengracht bezeichnet) ist keine Krankheit (kein Morbus!) sondern eine in aller Regel harmlose Stoffwechselstörung. Sie ist häufig und betrifft 2-10% der westlichen Bevölkerung.

Es wird durch eine geringe Gelbfärbung der Augen (Sklerenikterus) auffällig. Daher wird vielfach zunächst an eine Leberkrankheit gedacht. Die Laborwerte der Leber sind jedoch völlig normal. Auch liegt ein vermehrter Blutzerfall (Hämolyse), der ebenfalls zu einer leichten Gelbsucht führt, im Allgemeinen nicht vor. Und da die Betroffenen sich wohl fühlen, ist es meist leicht, ein Meulengracht-Syndrom bei leichtem Sklerenikterus als die wahrscheinlichste Diagnose anzunehmen, besonders wenn er bei Jugendlichen bemerkt wird.

Bei normalen Leberwerten und Wohlbefinden braucht in aller Regel keine weitere Diagnostik durchgeführt zu werden. Auch eine Behandlung ist nicht erforderlich. Da die Phasen einer leichten Gelbverfärbung der Augen meist mit Phasen vermehrten Stresses und verminderter Nahrungsaufnahme zusammenfallen (z. B. während einer Prüfungsvorbereitung), bedeutet es für einige Betroffenen allenfalls, mehr auf ein geregeltes Leben zu achten.

Zugrunde liegt eine genetische Anomalie: Ein homozygoter Polymorphismus A(TA)7TAA ist die häufigste Ursache bei Menschen mit Gilbert-Meulengracht-Syndrom. Wenn erforderlich lässt sich die Stoffwechselanomalie durch Nachweis genetischer Varianten des UGT1A1-Gens (überwiegend UGT1A1*28) diagnostizieren.  (2)BMC Gastroenterol. 2019 Feb 4;19:22. doi: 10.1186/s12876-019-0931-2. PMID: 30717703; PMCID: … Continue reading


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Ursache und Entstehung

Das Gilbert-Meulengracht-Syndrom beruht auf einer Konjugationsstörung des gelben Blutfarbstoffs (Bilirubin) in Hepatozyten (Leberzellen). Bei der Analyse findet man einen A(TA)7TAA Polymorphismus im Promotor des Gens für UGT1A1 (Uridindiphosphat-Glucuronosyltransferase 1A1) auf Chromosom 2. (3)Burchell B u. Hume R J Gastroenterol Hepatol 1999; 14: 960-966 (4)Borlak J et al Hepatology 2000; 32: 792-795 Eine gelegentlich beschriebene leicht vermehrte Hämolyse hängt wahrscheinlich mit einer vermehrten Bildung von COHbc (CO an Carboxyhämoglobin gebunden) zusammen. (5)Kaplan M et al. Hepatology 2002; 35: 905-911

Die Erhöhung des indirekten Bilirubins hängt möglicherweise zudem mit einer Aufnahmestörung in die Leberzellen zusammen (wie mit Hilfe von BSP-Aufnahmemessungen nachgewiesen). (6)Rotger M et al. Gilbert syndrome and the development of antiretroviral therapy-associated … Continue reading

Der Haplotype UGT1A1*28 prädisponiert zu Hyperbilirubinämie und ist offenbar auch ein Prädiktor für eine hyperbilirubinämische Reaktion bei der Therapie mit bestimmten Medikamenten, so z. B. bei antiviraler Therapie mit Proteaseinhibitoren (bei einer HIV-Therapie verwendet) (7)Rotger M et al. Gilbert syndrome and the development of antiretroviral therapy-associated … Continue reading

Die Variante c.880_893delinsA (p.Tyr294MetfsTer69) ist möglicherweise auch mit einem partiellen Enzymmangel assoziiert, der zum Gilbert-Syndroms führt. Da diese genetische Variante mit dem Crigler-Najjar-Syndrom Typ I assoziiert ist, besteht zwischen beiden genetischen Anomalien eine gewissen Verwandtschaft. (8)Turk Arch Pediatr. 2022 May;57(3):295-299. doi: 10.5152/TurkArchPediatr.2022.21291  (9)Hum Mutat. 2000 Oct;16(4):297-306. doi: … Continue reading

Klinische Bedeutung

Bei der Meulengracht-Anomalie lässt sich häufig ein leichter Sklerenikterus erkennen. Er tritt oft in Situationen mit vermehrtem Stress und verminderter Nahrungsaufnahme auf oder unter einer sonstigen abnormen Bedingung mit Nahrungskarenz oder Appetitlosigkeit. Die Stoffwechselanamalie wird nicht vor der Pubertät manifest und betrifft etwa 5% der Bevölkerung.

Gestörter Metabolismus von einigen Medikamenten: Eine klinische Bedeutung der ansonsten harmlosen Stoffwechselanomalie besteht eventuell in einem gestörten Metabolismus von einigen Medikamenten. (10)Review: Toxicol Lett 2000; 112-113: 333-340 Zudem kann sie bei gleichzeitig bestehenden Leberkrankheiten möglicherweise zu einem prolongierten Ikterus führen. (11)Hepatology 2000; 32: 563-568

Medikamente als Auslöser eines Leberschadens: Die UDP-Glucuronyltransferase 1A1*28 wurde mit einem erhöhten Risiko für die Toxizität einzelner Medikamente assoziiert gefunden.

  • HIV-Medikamente: Proteaseinhibitoren wie Atazanavir (12)Hepatology. 2006 Nov;44:1324-32 und Indinavir (13)Pharmacogenet Genomics. 2006 May;16:321-9 führen gehäuft zu einer Hyperbilirubinämie,
  • Irinotecan-Toxizität (14)J Clin Oncol 1999; 17: 1751-59
  • Toxizität von Paracetamol: (15)Eur J Drug Metab Pharmacokinet 1999; 24: 9-13,
  • Anti-HCV-Therapie: relativ häufiger Ikterus (16)BMC Gastroenterol. 2019 Feb 4;19:22. doi: 10.1186/s12876-019-0931-2. PMID: 30717703; PMCID: … Continue reading,
  • Mebendazol (Mittel gegen Wurmkrankheiten): In einem publizierten Fall wurde Mebendazol als Auslöser einer toxischen Leberschädigung bei Gilbert-Meulengracht-Syndrom angesehen; als Mechanismus wurde die verminderte Glucuronidierung durch den Mangel an Glucuronosyltransferase angesehen. (17)J Clin Pharm Ther. 2019 Dec;44:985-987. doi: 10.1111/jcpt.13033. Epub 2019 Aug 18. PMID: 31423600.,
  • Isotretinoin (Mittel zur Behandlung von Akne) hat bei Patienten mit einem Meulengracht-Syndrom einen Leberschaden ausgelöst. (18)BMJ Open. 2014 Mar 20;4:e004441. doi: 10.1136/bmjopen-2013-004441. PMID: 24650805; PMCID: … Continue reading

Die prolongierte neonatale Hyperbilirubinämie von Brustmilch-gefütterten Kindern ist assoziiert mit dem Gen-Polymorphismus des Gilbert-Syndroms. (19)J Pediatr 1999; 134: 441-446, Semin Neonatol 2002; 7: 121-128

Hämolytische Erkrankungen scheinen bei gleichzeitig bestehendem Gilbert-Meulengracht-Syndrom zu verlängert und verstärkt ikterischem Verlauf zu neigen. Das gilt u.a. für den Favismus (G6PDH-Mangel) (20)Eur J Haematol 1999; 62: 307-310, die ß-Thalassämie (21)Haematologica 1999; 84: 103-105 und die Sichelzell-Anämie. (22)South Med J 2002; 95: 939-940

Bei Kindern mit Gallensteinen ist die Häufigkeit des veränderten Gens (UGT1A1) signifikant erhöht, so dass das Gilbert-Meulengracht-Syndrom als prädisponierender Faktor für die Gallensteinbildung bei Kindern angesehen wird. (23)Hämatologica 2003; 88: 1193-1194 Bei zystischer Fibrose erhöht das Gilbert UGT1A Allel die Wahrscheinlichkeit für Gallensteine. (24)Hepatology 2006; 43: 738-41

Differenzialdiagnosen

Ein leichter Sklerenikterus kann Zeichen einer Leberkrankheit (z. B. einer viralen Hepatitis, Leberzirrhose, Fettleberhepatitis) oder einer Hämolyse sein. Sie sollten durch Laboruntersuchungen und durch die Sonographie abgeklärt werden.

Diagnostik

Anamnese

Die Diagnose liegt nahe, wenn bei einem sonst Gesunden ein leichter Sklerenikterus, aber keine wesentliche Einschränkung des Wohlbefindens und der Leistungsfähigkeit vorliegt. Meist handelt es sich um eher jugendliche Menschen, die wegen einer interkurrenten harmlosen Erkrankung (z. B. eine Gastroenteritis) oder sonstigen Bedingung (z.B. Stress) zu wenig gegessen haben. Keine Lebererkrankung in der Vorgeschichte, keine erinnerliche Infektionsmöglichkeit für eine Hepatitis.

Labordiagnostik

Leichte Hyperbilirubinämie (überwiegend indirektes Bilirubin) bis auf das 3-fache, maximal auf das 5-fache der oberen Normgrenze. Transaminasen und Cholestaseenzymen im Normbereich, in der Regel unauffällige Hämolyseparameter, eine diskrete Hämolyse kann aber vorkommen (Retikulozyten, Haptoglobin, LDH).

Die Bestimmung des UDT1A1-Promoter-Polymorphismus ist die sicherste Diagnostik.

Selten ist das Gilbert-Meulengracht-Syndrom mit anderen hereditären Ikterusformen vergesellschaftet, so z. B. mit dem Dubin-Johnson-Syndrom. Solche Koinzidenzen können nur molekulargenetisch festgestellt werden (hier: Nachweis von verminderter Konjugationsrate des Bilirubins durch die homozygote Variante A(TA) 7 TAA der TATAA-box im UGT1A1-gene-promoter für das Gilbert-Meulengracht Syndrom PLUS eine Mutation im ABCC2/MRP2 Gen, das für den kanalikulären Transporter für konjugiertes Bilirubin kodiert. (25)Gastroenterology. 2005; 129:315-20

Eine wichtige Koinzidenz mit dem Gilbert-Meulengracht-Syndrom, die ebenfalls nur molekulargenetisch einwandfrei diagnostizierbar ist, ist die mit einem Mangel an Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase: dies soll ein erhöhtes Risiko für einen Kernikterus darstellen. (26)Semin Perinatol. 2004 Oct;28:356-64. Review

Sonographie

In der Sonographie findet man eine unauffällige Leber ohne Zeichen einer besonderen Verfettung oder eines zirrhotischen Umbaus.

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Provokationstests

(selten erforderlich)

Durch 3tägige Kalorienreduktion auf 600 kcal/d oder 50 mg Nikotinsäure i.v. erfolgt ein Anstieg des Bilirubins, besonders des indirekten Bilirubins.

Weiterführende Diagnostik

Invasive Diagnostik sollte vermieden werden. Es besteht keine Indikation für eine ERCP oder Leberpunktion.

Sicherung durch Genetik

Der Nachweis eines UDT1A1-Promoter-Polymorphismus gilt als beweisend.

Gilbert-Syndrom und Lebertransplantation

Lebern von Menschen mit Gilbert Syndrom sind sonst funktionell gesund und können ohne erhöhtes Risiko für den Empfänger und für den Spender (Leberteilspende) transplantiert werden. Es kommt jedoch häufig zu erhöhten postoperativen Bilirubinwerten. (27)Transplantation. 2006; 82: 282-5

Therapie

Eine medikamentöse Therapie ist nicht erforderlich; allenfalls sollte eine vernünftige Lebensführung mit genügender Kalorienzufuhr empfohlen werden. Vorsicht bei der aus anderen Gründen zu erwägenden Therapie mit Medikamenten, die mit der UDP-Glucuronyltransferase interferieren können (u. a. Paracetamol, Irinotecan) (s. o.).

Zinksulfat bindet unkonjugiertes Bilirubin im Darm und reduziert damit eine Reabsorption (Unterbrechung des enterohepatischen Kreislaufs. Dies bewirkt eine Senkung des Bilirubinspiegels im Blut. (28)Ann Hepatol. 2002 Jan-Mar;1(1):40-3 Dies hat jedoch keine Wirkung auf den Bilirubinspiegel bei Neugeborenen (29)Curr Health Sci J. 2020 Jul-Sep;46(3):250-254. doi: 10.12865/CHSJ.46.03.06 und beim Gilbert-Meulengracht-Syndrom keine therapeutische Bedeutung.


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Verweise

Fachinformationen

Patienteninformationen

 

 


Autor: Prof. Dr. Hans-Peter Buscher (s. Impressum)


 


Literatur

Literatur
1Drug Metab Rev. 2010 Feb;42(1):168-81. doi: 10.3109/03602530903209429
2BMC Gastroenterol. 2019 Feb 4;19:22. doi: 10.1186/s12876-019-0931-2. PMID: 30717703; PMCID: PMC6360704.
3Burchell B u. Hume R J Gastroenterol Hepatol 1999; 14: 960-966
4Borlak J et al Hepatology 2000; 32: 792-795
5Kaplan M et al. Hepatology 2002; 35: 905-911
6Rotger M et al. Gilbert syndrome and the development of antiretroviral therapy-associated hyperbilirubinemia. J Infect Dis. 2005;192: 1381-6
7Rotger M et al. Gilbert syndrome and the development of antiretroviral therapy-associated hyperbilirubinemia. J Infect Dis. 2005;192: 1381-6
8Turk Arch Pediatr. 2022 May;57(3):295-299. doi: 10.5152/TurkArchPediatr.2022.21291
9Hum Mutat. 2000 Oct;16(4):297-306. doi: 10.1002/1098-1004(200010)16:4<297::AID-HUMU2>3.0.CO;2-Z.
10Review: Toxicol Lett 2000; 112-113: 333-340
11Hepatology 2000; 32: 563-568
12Hepatology. 2006 Nov;44:1324-32
13Pharmacogenet Genomics. 2006 May;16:321-9
14J Clin Oncol 1999; 17: 1751-59
15Eur J Drug Metab Pharmacokinet 1999; 24: 9-13
16BMC Gastroenterol. 2019 Feb 4;19:22. doi: 10.1186/s12876-019-0931-2. PMID: 30717703; PMCID: PMC6360704.
17J Clin Pharm Ther. 2019 Dec;44:985-987. doi: 10.1111/jcpt.13033. Epub 2019 Aug 18. PMID: 31423600.
18BMJ Open. 2014 Mar 20;4:e004441. doi: 10.1136/bmjopen-2013-004441. PMID: 24650805; PMCID: PMC3963066.
19J Pediatr 1999; 134: 441-446, Semin Neonatol 2002; 7: 121-128
20Eur J Haematol 1999; 62: 307-310
21Haematologica 1999; 84: 103-105
22South Med J 2002; 95: 939-940
23Hämatologica 2003; 88: 1193-1194
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