Gemeinsame Entscheidungsfindung in der Gesundheitsversorgung

Artikel aktualisiert am 3. Januar 2023

Gemeinsame Entscheidungsfindung (shared decision making, SDM) ist die Bezeichnung für den Kernpunkt einer patientenzentrierten Betreuung in der ärztlichen Praxis, bei der der Patient bei seinen Entscheidungen zum medizinischen Vorgehen vom Arzt helfend begleitet wird.


Das Wichtigste

Kurzgefasst

Gemeinsame Entscheidungsfindung (shared decision making, SDM) ist ein aufkommendes Konzept, Patienten ganzheitlich zu betreuen. Dabei hilft der Arzt seinem Patienten, schwierige Entscheidungen zu treffen. Er informiert ihn nicht nur medizinisch, sondern begleitet ihn auch auf dem gedanklichen und emotionalen Weg zur Entscheidung. Dies setzt eine sehr intensive und vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung voraus.

Der Arzt wäre damit nicht mehr nur der Gesundheitsverkäufer, zu dem ihn manche Gesundheitsanbieter (und er sich manchmal auch selbst) machen!

Neue wissenschaftliche Literatur zeigt die Vorteile des Konzepts. Es wird in ihr auch diskutiert, dass dieser Weg ethisch geboten sein kann.


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Definition

Die gemeinsame Entscheidungsfindung (SDM) lässt sich etwa so definieren (1)BMJ. 2010 Oct 14; 341():c5146. (2)J Gen Intern Med. 2012 Oct; 27(10): 1361–1367 : „Gemeinsame Entscheidungsfindung ist ein Ansatz, bei dem Ärzte und Patienten die besten verfügbaren Erkenntnisse bei der Entscheidungsfindung teilen, wenn sie mit der Aufgabe einer Entscheidungsfindung konfrontiert sind, und bei dem Patienten durch den Arzt dabei unterstützt werden, alle für ihn in Betracht kommenden Optionen (Behandlungsalternativen) zu prüfen, um im bestinformierten Zustand das herauszufinden, welche sie unter Berücksichtigung ihrer Lebenseinstellung und Lebensverhältnisse am ehesten wollen.“

Alternativen

SDM steht im Gegensatz zu

  • einer paternalistisch ärztlichen Entscheidung nach den Prinzipien bestmöglicher medizinischer Versorgung, ggf. auch unter Einbeziehung menschlicher Aspekte, aber alleine nach Vorstellung des Arztes, und
  • einer Entscheidungsübertragung alleine auf den medizinisch informierten Patienten, der seine Entscheidung ohne weitere Hilfe treffen soll (3)Soc Sci Med. 1999 Sep;49(5):651-61 .

Ethische Überlegungen

Die gemeinsame Entscheidungsfindung kann als moralisches Konzept angesehen werden, über welches sich die betreuenden Ärzte klar werden sollten (4)Patient Educ Couns. 2006 Aug;62(2):271-6 .

SDM geht davon aus, dass individuelle Selbstbestimmung und persönliche Autonomie hohe und schützenswerte Güter sind. Dabei wird die Patientenautonomie relational gesehen: es wird anerkannt, dass sie durch persönliche zwischenmenschliche Aspekte und gegenseitige Abhängigkeiten beeinflusst wird.

Solche Gesichtspunkte kann eine ärztliche wohlmeinende Entscheidung, ein Gegenprinzip von SDM (s.o.), nicht einbeziehen. Auch ist der Arzt oft durch Aspekte einer Verteilungsgerechtigkeit (Zeit, Ressourcen) beeinflusst.

Eine Übertragung der Entscheidung auf den informierten Patienten ist einer SDM ebenfalls unterlegen, da der Patient die Zwiespälte, in die er hineingeraten kann, oft nicht alleine aufzulösen vermag, oder weil er das (angelesene oder sonst erworbene) medizinische Wissen nicht angemessen bewerten kann.

Der Vorteil von SDM ist die individuelle ärztliche Begleitung in dem Entscheidungsprozess, die nicht nur die medizinischen Gesichtspunkte sondern auch die Lebenseinstellung und die Lebenssituation des Patienten berücksichtigen kann – soweit sie der Patient mit dem Arzt teilen will (5)J Gen Intern Med. 2012 Oct; 27(10): 1361–1367 .

SDM bei problematischer Entscheidungslage

Gemeinsame Entscheidungsfindung (SDM) ist ein Prozess, der bei jeder, vor allem aber bei medizinisch problematischer Entscheidungslage zu individuell vertretbaren Entscheidungen führt. Entscheidend ist, dass der informierte Patient in den Prozess, der zu ärztlichen Entscheidungen führt, eingebunden wird und damit als Entscheidungspartner des Arztes fungiert. Medizinische Leitlinien sind hierbei nur eine der Entscheidungsgrundlagen des Arztes, die Meinung des informierten und selbstbestimmten Patienten, seine Lebenseinstellung und aktuelle Lebenssituation die ganz wesentliche andere.

Drei essenzielle Schritte von SDM

Bei der Umsetzung des Prinzips in die Praxis sind drei Schritte zu beachten (6)J Gen Intern Med. 2012 Oct; 27(10): 1361–1367 :

  • die Problematik aufzeigen,
  • die Optionen (Wahlmöglichkeiten) beschreiben und
  • den Patienten dabei unterstützen, seine Präferenzen zu  erforschen und Entscheidungen zu treffen.

 Voraussetzung Aufklärung

Voraussetzung für eine gemeinsame Entscheidungsfindung ist, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten allgemein, d.h. dem Patienten wie auch dem behandelnden Arzt und dem Pflegepersonal bewusst gemacht und gefördert wird. Besonders der Patient soll sich seines Rechts, sich an Entscheidungen über seine Gesundheit zu beteiligen, bewusst sein. Um sich an den Entscheidungsprozessen beteiligen zu können, bedarf er i.d.R. einer angemessenen Aufklärung. Und dies wird oft zum geschwindigkeitsbestimmenden zeitlichen Engpass im Entscheidungsprozess.

Faktoren, die eine gemeinsame Entscheidungsfindung behindern

Der Zeitbedarf einer patientenorientierten Aufklärung und ihre unzureichende Repräsentation im EBM (einheitlicher Bewertungsmaßstab) gehören zu den größten Hemmnissen für die Umsetzung einer SDM. Es gibt eine Reihe weiterer Faktoren, die die Umsetzung von SDM behindern. Zu ihnen gehören

  • die „Co-Modifikation“ des Gesundheitswesens,
  • die Informationsrevolution (zunehmende Erreichbarkeit medizinischer Informationen, Einbindung von Patienten in Versorgungs- und Betreuungsnetzwerke),
  • die Spannung zwischen Wahl und Kontinuität (Beginn einer Betreuung kann spätere  Entscheidungen präjudizieren),
  • den Prozess der Medizinisierung (alles wird nur unter dem Blickwinkel des Möglichen gesehen),
    Strategien der Bevölkerungsgesundheit und
  • die Verfügbarkeit von Ressourcen.

Das Potenzial von SDM

Das Potenzial von SDM für die Gesundheitspolitik liegt darin, dass

  • Behandlungsoptionen, die statistisch (d.h. für die Allgemeinheit) nicht eindeutig mit einem Nutzen verbunden sind, aber das Gesundheitssystem belasten, nicht überbeansprucht werden (Beispiel: Screening von Prostatakrebs),
  • Behandlungsoptionen, die statistisch (d.h. für die Allgemeinheit) eindeutig nützlich sind, gefördert werden (Beispiel: Risikomanagement für Herzkreislaufkrankheiten),
  • eine unzureichende Gesundheitsvorsorge (z. B. durch falsche Ernährung) verringert wird,
  • das gesamte Gesundheitssystem effektiver und nachhaltiger wirtschaftet.

Beispiele

Screening auf Krebs: Trotz verbreiteter Krebsangst wird die Krebsvorsorge in den USA nicht routinemäßig von Ärzten (Hausärzten) empfohlen. Eine Analyse der Einstellung von 278 Ärzten der Primärversorgung ergab, dass zwar 79% es für wichtig hielten, die Vorteile der Screeninguntersuchungen darzulegen und 64% auch die Risiken der Untersuchung zu diskutieren; aber nur 31% würden der Entscheidung der Patienten zustimmen (7)Med Decis Making. 2017 Jan;37(1):70-78. Epub 2016 Jul 18. . In einer anderen amerikanischen Studie (8)Patient Educ Couns. 2010 Sep;80(3):358-63 wurde festgestellt, dass eine shared decision making nur in sehr wenigen Fällen erfolgte, und dass Patienten die Gespräche mit dem Arzt häufig anders erlebten und bewerteten als der Arzt.

Darmkrebsvorsorge: Entscheidungshilfe für Patienten betr. Darmkrebsvorsorge (9)Am J Prev Med. 2016 Nov;51(5):779-791 : Informierte Menschen der mittleren Altersgruppe mit durchschnittlichem Darmkrebsrisiko sind eher bereit, sich auf Darmkrebs screenen zu lassen als solche, die uninformiert sind, aber nicht mehr als solche, die nicht individuell, sondern nur allgemein informiert wurden. Entscheidungshilfen, gleich ob sie individuell nahegebracht oder nur allgemein zur Verfügung gestellt werden, verbessern das Interesse an Screening, und führen zu einer erhöhten Screeningrate.

Dialyse bei Niereninsuffizienz im Endstadium: Bei einer Niereninsuffizienz im Endstadium kann es für die Betroffenen eine Option sein, auf eine Dialyse zu verzichten (10)BMJ Open. 2016; 6(12): e013755 doi:  10.1136/bmjopen-2016-013755 . Inzwischen gibt es Beispiele dafür, dass ihnen durch Angebot einer besten Palliativbehandlung (best-supportive-care) solch eine alternative Option angeboten wird. Wenn der Betroffene weiß, dass eine palliative Nierenstation zur Verfügung steht, die auf Symptommanagement spezialisiert ist, vermag er diese Option eher in Betracht ziehen. Aber es ist durchaus noch nicht üblich, dass der betreuende Arzt solch eine Möglichkeit anbietet und darüber genauer informiert. In einer multizentrischen Australischen Studie (11)Am J Kidney Dis. 2012 Mar;59(3):419-27 wird festgestellt, dass in der Studiengruppe von 721 Patienten durchschnittlich 1 von 7 Patienten mit Niereninsuffizienz im Endstadium sich gegen eine Dialyse entscheidet.

Psychische Erkrankungen: Eine Entscheidungshilfe für Patienten mit psychischen Erkrankungen nach dem SDM umfasst nach einer neueren Arbeit (12)Int J Qual Stud Health Well-being. 2016 May 9;11:30563. doi: 10.3402/qhw.v11.30563. 5 Punkte:

  1. Die Vorbereitung, in der z. B. der gewünschte Gesprächspartner festgelegt wird; hier macht sich der Betroffene auch Gedanken darüber, was er alles dem Gesprächspartner sagen will, von dem er meint, dass es wichtig für die anstehende Entscheidung sei,
  2. die Wahl der Gesprächsform, wobei jeweils die Reaktion des Patienten berücksichtigt wird (du kannst immer unterbrechen, du kannst dich als freier Mensch fühlen, …),
  3. das Gespräch bezüglich der Optionen, wobei das Vorwissen gecheckt und das fehlende Wissen über Behandlungsoptionen ergänzt wird,
  4. das Gespräch zur Entscheidungsfindung, und
  5. die Nachverfolgung, bei der Bedürfnisse und Wünsche berücksichtigt werden, nachdem die Entscheidung getroffen wurde; dies vermittelt ein Gefühl der Sicherheit.

Die Punkte 1 und 5 ergänzen diejenigen, die auch für SDM bei somatischen Krankheiten gelten (13)J Gen Intern Med. 2012 Oct; 27(10):1361-7 .

Verweise

Literatur

Literatur
1BMJ. 2010 Oct 14; 341():c5146.
2J Gen Intern Med. 2012 Oct; 27(10): 1361–1367
3Soc Sci Med. 1999 Sep;49(5):651-61
4Patient Educ Couns. 2006 Aug;62(2):271-6
5J Gen Intern Med. 2012 Oct; 27(10): 1361–1367
6J Gen Intern Med. 2012 Oct; 27(10): 1361–1367
7Med Decis Making. 2017 Jan;37(1):70-78. Epub 2016 Jul 18.
8Patient Educ Couns. 2010 Sep;80(3):358-63
9Am J Prev Med. 2016 Nov;51(5):779-791
10BMJ Open. 2016; 6(12): e013755 doi:  10.1136/bmjopen-2016-013755
11Am J Kidney Dis. 2012 Mar;59(3):419-27
12Int J Qual Stud Health Well-being. 2016 May 9;11:30563. doi: 10.3402/qhw.v11.30563.
13J Gen Intern Med. 2012 Oct; 27(10):1361-7