Autismus-Spektrum-Störungen

Artikel aktualisiert am 27. April 2023

Autismus-Spektrum-Störungen (engl.: Autism spectrum disorders, ASDs, früher: pervasive developmental disorders, PDD) sind eine Gruppe von Behinderungen, die durch Störungen des Empfindens und Verhaltens gekennzeichnet sind, in aller Regel in früher Kindheit manifest werden, und durch eine abnorme Entwicklung der Vernetzung von Nervenzellen des Gehirns zustande kommen.

Die Autismus-Spektrum-Störungen sind gekennzeichnet durch

  • eine Beeinträchtigung sozialer Kommunikation,
  • eingeschränkte und wiederkehrende (repetitive) Interessen und Verhaltensweisen. (1)J Child Psychol Psychiatry. 2012 May ; 53(5): 490–509

Therapie des Autismus


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Das Wichtigste verständlich

Kurzgefasst
Autismus ist eine Störung des Sozialverhaltens, welches mit einer verminderten Empathiefähigkeit und einer eingeschränkten Fähigkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen verbunden ist. Die normale Umgebung enthält für die Betroffenen eine Reizvielfalt, die für sie schwer zu bewältigen ist und Angst und Depression auslösen kann. Die Veranlagung kann bereits in früher Kindheit durch eingeschränkten Blickkontakt und verspätete Sprachfähigkeit zutage treten.

Die Ausprägung ist individuell sehr unterschiedlich und reicht von einem „subthreshold autism“ über das Asperger-Syndrom (mit weitgehend erhaltener Intelligenz und Sprachfähigkeit) zu schweren Störungen von Aufmerksamkeit, Empfinden und Verhalten. Wissensanhäufungen entbehren des Zusammenhangs. Es können sich zwanghafte und repetitive Verhaltensweisen und Rituale entwickeln. Die normale Umwelt kann als Reizüberflutung erlebt werden, Ängste auslösen und Anlass zu schwerer Depression sein. Die Vielfalt der Erscheinungsformen wird in dem Begriff „Autismus-Spektrum-Krankheit“ (ASD) gebündelt.

Grobe Einteilung: Der Übersichtlichkeit halber werden die Ausprägungen oft zweigeteilt in „high functioning“ und „low functioning“ Autismus. In der Öffentlichkeit wird vor allem der high functioning Autismus diskutiert, der gelegentlich einen modischen Anstrich (mit Selbstdiagnose) erhält.

Ursache, Entstehung: Der Krankheit liegt eine Störung der Konnektivität im Gehirn zugrunde, die genetische / epigenetische Grundlagen hat. Das Rett-Syndrom und das Fragile-X-Syndrom sind Beispiele für eine monogenetische Grundlage.

Die Behandlung besteht im Wesentlichen in einer Reduzierung der Reizüberflutung und im Stressabbau sowie in einem Verhaltenstraining. Welche Medikamente bei besonderen Ausprägungen infrage kommen, ist individuell zu entscheiden. (Dazu siehe hier.)

Kritik an den Begriffen

Der Begriff des Autismus (Kanner 1943 (2)Nervous Child. 1943; 250(2):217–250 ) deckt die vielfältigen Erscheinungsformen nicht genügend ab; daher wurde vorgeschlagen, nicht von „autism“ (engl.) sondern von „autisms“ zu sprechen. (3)Curr Opin Neurobiol. 2007 Feb;17(1):103-11 Heute werden sie unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störungen (ASDs) zusammengefasst (4)J Child Psychol Psychiatry. May 2012; 53(5): 490–509 ISRN Nutr. 2014 Feb 13;2014:514026, der den engeren Autismus, das Asperger-Syndrom, desintegrative kindliche Entwicklungsstörungen und kindliche Entwicklungsstörungen, die sich nicht unter den engen Begriff des Autismus einordnen lassen (in den USA unter PDD-NOS als „subthreshold autism“ eingeordnet) überdeckt.

ASD beinhaltet ein außerordentlich breites Spektrum an Schweregraden. Das öffentliche Augenmerk ist vor allem auf die sprachlich versierten Betroffenen gelenkt. Es wird beanstandet, dass der Begriff ASD, der mit Autismus gleichgesetzt wird, wegen seiner Breite in dieser Beziehung nicht hilfreich ist, und dass eine Reaktivierung des Begriffs „Asperger Syndrom“ für nicht sprachlich eingeschränkte Betroffene sinnvoll wäre, um Autismus in der Öffentlichkeit auch wieder mit höhergradig Betroffenen mit sprachlichen Einschränkungen zu assoziieren. Denn dieser Gruppe würde wenig Aufmerksamkeit und entsprechend wenig öffentliche Hilfestellung zukommen (siehe Artikel im Guardian). Eine Lancet-Kommission soll dem entgegenwirken. (5)Lancet. 2022 Jan 15;399(10321):271-334. DOI: 10.1016/S0140-6736(21)01541-5 (6)Lancet. 2022 Jan 15;399(10321):215-217. doi: 10.1016/S0140-6736(21)02735-5.

Häufigkeit

Nach Untersuchungen des „Netzwerks für Autismus und Entwicklungsstörungen der Centers for Disease Control and Prevention“ der USA 2008, veröffentlicht 2012 (Autism and Developmental Disabilities Monitoring (ADDM)) [5], lag die Prävalenz bei 11,3 auf 1000 Kinder im Alter von 8 Jahren, wobei Jungen etwa 5 mal häufiger betroffen sind als Mädchen (1 von 54 Jungen vs. 1 von 252 Mädchen). Verglichen mit Daten von 2006 lag die Häufigkeit der ASD-Diagnosen 2008 um 23% höher, verglichen mit Daten von 2002 sogar um 78%! Es wird allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass die Daten der an der Erhebung beteiligten Zentren nicht auf die gesamten USA hochgerechnet werden können. Es wird angenommen, dass zu dem erheblichen Anstieg der Zahl erfasster Autismus-Fälle eine bessere Achtsamkeit bezüglich der Diagnose sowie eine in den letzten Jahren erfolgte Ausweitung der Definition, die zur Einbeziehung leichterer Fälle geführt hat, beigetragen haben könnte.

Ursache und Entwicklung

Die Pathogenese des Autismus in seinen verschiedenen Formen ist nicht vollständig geklärt. Ihr zugrunde liegt eine Entwicklungsstörung des Gehirns (neurodevelopmental disorder), die sich bereits im Kleinkindesalter manifestiert. Die Auswirkungen auf das Verhalten können außerordentlich vielfältig sein, so dass die Diagnose oft schwer erkennbar oder von Differenzialdiagnosen abgrenzbar ist.

Autismus entsteht bei einer endogenen genetischen Disposition durch exogene Auslöser. Dabei spielen oxidativer Stress und eine mitochondriale Dysfunktion der sich entwickelnden Gehirnzellen sowie eine immunologische Fehlregulation eine bedeutende Rolle. (7)Mol Diagn Ther. 2018 Oct;22(5):571-593. DOI: 10.1007/s40291-018-0352-x (8)Int J Mol Sci. 2022 Mar 11;23(6):3033. DOI: 10.3390/ijms23063033 Einzelne Aspekte werden im Folgenden ausführlicher betrachtet.

Evolutionärer Aspekt

Bei der Entwicklung des Menschen spielen Vorgänge einer „Selbstdomestizierung“ eine ausschlaggebende Rolle. Zu ihnen gehören beispielsweise die Entwicklung einer Zahmheit, Sozialfähigkeit und Kooperativität. Diese Fähigkeiten haben die Sprachfähigkeit entscheidend gefördert. Die Domestizierung des Menschen ist ein übergeordneter Gesichtspunkt, unter dem psychiatrische Krankheiten, wie die Schizophrenie und ASD, betrachtet werden können. Bei ihnen wird die Domestizierung als auf einer tieferen Ebene gestört angesehen, oft mit Auswirkung auf die Sprachfähigkeit. Es wurden entsprechend Gene gefunden, deren Aktivität mit diesen Krankheiten, Sprachfähigkeit und den Domestizierungscharakteristika zusammenhängen. (9)Front Neurosci. 2016 Aug 29;10:373. DOI: 10.3389/fnins.2016.00373

Genetische Grundlagen der Autismus-Spektrum-Störung

Ein definierbares Autismus-Gen gibt es nicht. Offenbar sind bestimmte genetische Anlagen förderlich; dies ließ sich bereits aus Zwillingsstudien ablesen. (10)Pediatrics. 2004 May;113(5):e472-86 Die genetischen Muster (copy number variations, CNV), die beim Autismus gefunden wurden, sind nicht Autismus-spezifisch, sondern finden sich auch bei anderen psychiatrischen Krankheiten. (11)Arch Gen Psychiatry. 2009 Sep;66(9):947-56 Allerdings besteht eine signifikante Assoziation der ASDs mit de-novo-Duplikationen von 7q11.23 (12)Neuron. 2011 Jun 9;70(5):863-85, dessen Verlust (Verlust des langen Arms von Chromosom 7) das Williams-Beuren-Syndrom verursacht, das (im Gegensatz zum Autismus) mit gesteigerten sozialen Fähigkeiten verbunden ist.

Gene, deren Veränderung mit einem erhöhten Risiko für Autismus verbunden ist, sind solche für den neuronalen Transkriptionsfaktor und für den neuronenspezifischen Splicingfaktor, die in die Synapsenbildung und in Neurotransmission involviert sind (A2BP1, auch bekannt als FOX1). (13)Nature. 2011 May 25;474(7351):380-4. doi: 10.1038/nature10110

Da das Verhältnis von ASD-betroffenen Kindern (m:f = 4-5:1) asymmetrisch ist, wird von einem Einfluss von Genen auf dem X-Chromosom auf die Gehirnentwicklung ausgegangen.

ASD und „fragiler X-Prämutationszustand“: Eine Untergruppe von ASD beruht auf einer Einzelgen-Aberration. Das fragile-X-Syndrom (FXS) ist mit Tremor und Ataxie, einer Ovarialinsuffizienz und psychiatrische Erkrankungen (neurodevelopment disorders) inkl. Angststörungen und Depression verbunden. (14)J Neurol. 2022 Jun 20. DOI: 10.1007/s00415-022-11209-5

Epigenetische Modulation

Ochratoxin als ASD-fördernder Faktor: Eine Untersuchung zu Ochratoxin A, einem Pilzgift, das in Nahrungsmitteln häufig vorkommt und vor allem bei männlichen Individuen neurotoxisch wirkt, zeigt, dass es wahrscheinlich seine Wirkung über eine Modulation von mikroRNAs und darüber auf eine veränderte Genaktivität eines spezifischen Zielgens entfaltet. Eines der möglichen Zielgene ist Neuroligin4X, das auf dem X-Chromosom liegt und bereits mit ASD in Zusammenhang gebracht wurde. Dieser Befund erklärt die männliche Dominanz bei der Geschlechtsverteilung (wenn es sich nur dann auswirken kann, wenn nicht ein gesundes Gen auf einem zweiten X-Chromosom seine Wirkung hemmt). Er kann auch erklären, wie eine Gen-Umwelt-Interaktion bei genetisch prädisponierten Kindern zur Auslösung von Autismus führt. (15)Nutr Neurosci. 2016;19(1):43-6. DOI: 10.1179/1476830515Z.000000000186.

Einflussfaktoren

Umweltfaktoren

Medikamente, Alkohol: Es wurde beobachtet, dass eine Thalidomid-Exposition der Mutter dann Autismus bei Nachkommen hervorrufen kann, wenn die Einnahmezeit mit dem Schluss des Neuralrohrs zusammenfällt. (16)J Comp Neurol. 1996 Jun 24;370(2):247-61 Auch Antidepressiva während der Schwangerschaft können das Autismus-Risiko erhöhen. (17)Innov Clin Neurosci. 2014 May;11(5-6):18-22 Für viele Medikamente, wie Valproinsäure, Thalidomid und Misoprostol, und für Alkohol wurde wahrscheinlich gemacht, dass sie über die Expression vieler Gene, die Zellproliferation, neuronale Differenzierung und Apoptose steuern, in Richtung Autismus wirken. (18)Neurosci Biobehav Rev. 2011 Apr;35(5):1254-65. doi: 10.1016/j.neubiorev.2010.12.013 (19)Epigenomes. 2022 Jun 19;6(2):15. DOI: 10.3390/epigenomes6020015

Kindliche Deprivation (Vereinsamung, Vernachlässigung) führt nach einer Studie zu einer Erhöhung des Risikos einer Autismus-Spektrum-Krankheit. Kinder, die in Rumänischen Heimen weggesperrt aufwuchsen, wurden nach ihrer Adoption in Englische Familien nachuntersucht. Die Menschen der Gruppe, die länger als 1/2 Jahr in solch einer Einrichtung unter mangelnder menschlicher Zuwendung, schlechter Hygiene und mangelnder Ernährung zugebracht hatte, wiesen auch noch im Erwachsenenalter gehäuft psychosoziale Störungen auf, wie mangelhaftes soziales Engagement, Hyperaktivität, mangelnde Aufmerksamkeit und auch Symptome einer Autismus-Spektrum-Krankheit (20)Lancet. 2017 Apr 15;389(10078):1539-1548. doi: 10.1016/S0140-6736(17)30045-4.

Einfluss der Darmflora

Eine neue Richtung hat die Erforschung der Darmflora (Mikrobiom) aufgezeigt. Die im Stuhl nachweisbaren Mikrobiota und Metabolome (niedermolekulare Stoffwechselprodukte) von Autismus- und PDD-NOS-Kindern (PDD-NOS: pervasive developmental disorder-not otherwise specified) und die gesunder Kinder unterscheiden sich, wobei die Metabolome von PDD_NOS- und gesunden Kindern sich mehr ähneln als die von Autismus-Kindern und gesunden Kindern und. Entsprechend wurde bei Autismus-Kindern eine andere bakterielle Zusammensetzung des Dickdarminhalts gefunden als bei gesunden und PPD-NOS-Kindern. Beispielsweise zeigten sich bei Autismus-Kindern signifikant weniger Bifidobakterien und mehr Clostridien, Bacteroides, Pseudomonas, Prevotella und Enterobacterien. (21)Gut Microbes. 2015;6(3):207-13. doi: 10.1080/19490976.2015.1035855.

Laut einer amerikanischen Untersuchung ist die Vielfalt der Bakterienspezies im Darm von Autismus-Kindern geringer als die nicht autistischer Kinder, wobei die Ausprägung der autistischen Symptome sich nicht wiederspiegelt. Auffällig war eine geringere Häufigkeit der Gattungen Prevotella, Coprococcus und nicht klassifizierter Veillonellaceae. Diesen Bakteriengattungen werden vielseitige Fähigkeiten beim Kohlenhydratabbau zugeschrieben. Obwohl als Ursache eine ungewöhnliche Kost nahelag, wurde in einer statistischen Auswertung der Ernährungsgewohnheiten festgestellt, dass Autismus-bedingte Veränderungen in sowohl der Gesamtvielfalt als auch in der individuellen Häufigkeit der Bakteriengattungen zwar
mit der Anwesenheit autistischer Symptome korreliert, nicht aber mit den Diätmustern. (22)PLoS One. 2013 Jul 3;8(7):e68322. doi: 10.1371/journal.pone.0068322

Während bei gesunden Kindern Faecalibacterien und Ruminococcus als Hauptgruppen der Darmbakterien festgestellt wurden, ergab sich in Untersuchungen bei Autismus-Kindern eine größere Breite vorherrschender Stämme, wobei einerseits etliche Stämme vermehrt auftraten (so Bacteroides, Sarcina und Clostridien-Stämme) und andere geringer gefunden wurden (wie Eubacterium-Stämme (bis auf E. siraeum), Bifidobacterien, Firmicutes, Verrucomicrobia). (23)PLoS One. 2013 Oct 9;8(10):e76993 Auch weitere Untersuchungen zeigten eine wechselseitige Beeinflussung von Gehirn und Mikrobiota für mehrere Gattungen, darunter Akkermansia, Bacteroides, Bifidobacterium, Parabacteroides und Prevotella. (24)Front Cell Infect Microbiol. 2022 Jul 1;12:905841. DOI: 10.3389/fcimb.2022.905841

In einer Studie an Kindern mit spät manifest gewordenem Autismus (late-onset autism) ergab sich eine signifikante Korrelation zwischen Autismus und anaeroben Bakterien (z. B. Clostridien) im oberen und unteren Magendarmtrakt. (25)J Immunoassay Immunochem. 2014;35(1):101-9 (26)Clin Infect Dis. 2002 Sep 1;35(Suppl 1):S6-S16

Veränderungen in der Darmflora wurden mehrfach bei ASD-Patienten festgestellt, vor allem bei denjenigen, die unter gehäuften Darminfektionen und Diarrhö leiden (wie es bei Autismus gehäuft der Fall ist). Vielfach wird bei der regressiven Form des Autismus (mit anfangs normaler Entwicklung und späterem, z. B. nach 3 – 4 Jahren beginnendem Abbau sozialer Kontakte) auf einen möglichen Zusammenhang mit einem auslösenden Magendarminfekt hingewiesen.

Darminfektionen bewirken eine Verminderung der Barrierefunktion nicht nur im Darm, sondern auch an der Blut-Hirn-Schranke. Dies wird mit einer gering erhöhten, aber deutlichen entzündlichen Aktivität im Gehirn in Zusammenhang gebracht, wie sie bei Autismus gefunden wurde. (27)Med Hypotheses. 2013 Mar; 80(3):264-70 Es wird diskutiert, dass Umweltfaktoren (aufgenommen z. B. über den Darm) zu epigenetischen Veränderungen führen, die zu einer abnormen Veränderung des „Transkriptoms“ führen, die wiederum abnorme Hirnfunktionen in Richtung Autismus bewirken. (28)Front Neurol. 2015 May 26;6:107. doi: 10.3389/fneur.2015.00107 Ein interessanter Befund, der so erklärt werden könnte, ist die vermehrte Expression von Connexin 43 (Cx43) in Astrozyten im oberen Frontalhirn, wo soziale und empathische Fähigkeiten lokalisiert sind. Dieser Gedanke wird unterstützt durch Untersuchungen an enteralen Gliazellen (des autonomen Nervensystems des Darms), die den Astrozyten des Gehirns ähneln und mit vielen Zellen der Darmwand interagieren. Auch in ihnen ist die Cx43-Expression verändert. (29)Front Cell Neurosci. 2015 Jul 3;9:242. doi: 10.3389/fncel.2015.00242

Propionsäure, die durch bakteriellen Stoffwechsel im Darm zustande kommt (so durch kohlenhydratreiche Kost und vor allem durch Mais, der viel Omega-6- und keine Omega-3-Fettsäuren enthält), hat in Tierversuchen eine rasche Verhaltensänderung zur Folge, die dem Autismus entspricht. Auch die intracerebrale Injektion von Propionsäure fördert Autismus-ähnliche Verhaltensänderungen, so dass dies als Tiermodell der Erkrankung benutzt wird. (30)Behav Brain Res. 2014 Nov 6;278C:542-548 Daher wird vermutet, dass eine diätetische, medikamentöse oder immunologische Beeinflussung des Darm-Mikrobioms, insbesondere der Bakterien, die Neurotoxine und Propionsäure bilden, einen therapeutischen Schlüssel bei der Autismus-Behandlung darstellt (siehe hier).

Einfluss der Ernährung

Da sich regelmäßig bei autistischen Kindern Veränderungen in der Darmflora finden (s. o.), wird die Ernährung, so eine zunehmend als wahrscheinlich anzusehende Hypothese, eine wichtige Rolle bei Auslösung und Unterhaltung der Symptomatik spielen. Daher werden Diäten gesucht, die zu einer Besserung führen können.

Ein besonderer Befund, der auf die Rolle der Ernährung hinweist, ist der Nachweis von Antikörpern gegen Gliadin und Milchproteine in einer Subgruppe von Autismus-Kindern. (31)Biomed Res Int. 2013;2013:729349. doi: 10.1155/2013/729349 Entsprechend hat sich eine Gluten-freie und Casein-freie Ernährung als günstig herausgestellt (32)Complement Ther Med. 2012 Dec;20(6):437-40 (siehe hier) .

Einfluss des mütterlichen Immunstatus

Das mütterliche Immunsystem wird als ein wesentlicher Faktor angesehen, der die Entwicklung des Gehirns des Kindes in utero beeinflusst. Eine erhöhte Entzündungsreaktion bei der Mutter, wie sie beim Asthma und bei Allergien vorliegt, führt statistisch beim Kind zu einer etwas erhöhten Inzidenz von Autismus und Entwicklungsverzögerung (ohne Autismus). (33)J Autism Dev Disord. 2014 Jul;44(7):1546-55

Kein Nachweis eines Einflusses von Impfungen

Bei Kindern, die mit gastrointestinalen Störungen in einer Klinik vorgestellt wurden, wurde in einigen Fällen auch Autismus diagnostiziert, der mit einer vorangegangenen Impfung gegen Mumps und Röteln assoziiert gewesen sein soll. (34)Lancet. 1998 Feb 28;351(9103):637-41 Diese 1998 veröffentlichten Ergebnisse konnten in den folgenden Jahren nicht bestätigt werden. (35)Cochrane Database Syst Rev. 2012 Feb 15;2:CD004407 Der Artikel erwies sich als nicht haltbar und wurde 2010 wegen fehlerhafter Angaben und nicht deklarierter Fördermittel zurückgezogen, und der Erstautor erhielt ein Berufsverbot in Großbritannien. Wegen der Publizität hatte der Artikel bis dahin bereits ein deutliches Nachlassen der Impfbereitschaft zur Folge gehabt.

Das Thema ist 2014 erneut aufgekommen, da nach Reevaluation alter Studiendaten doch eine positive Assoziation zumindest für junge männliche Impflinge scharzer Hautfarbe in den Raumgestellt wurde. Es wurde die Hypothese aufgestellt, dass der erniedrigte Vitamin-D-Status bei schwarzer Hautfarbe zur ASD-Entwicklung nach einer solchen Tripel-Impfung beitragen könnte. (36)Transl Neurodegener. 2014 Aug 8;3:16. doi: 10.1186/2047-9158-3-16. eCollection 2014 Es bestehen jedoch ernsthafte Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Resultate und deren Interpretation, so dass auch diese Arbeit vom Fachjournal zurückgezogen wurde (37)Transl Neurodegener. 2014 Oct 3;3:22 „because of possible undeclared competing interests of the author and peer reviewers“. (38)Transl Neurodegener. 2014 Aug 29;3:18

Diese Fälle zeigen, wie Impfgegner über von ihnen gesponsorte Fachartikel Angst – in diesem Fall vor Autismus – schüren, indem sie in unverantwortlicher Weise versuchen, Resultate zugunsten ihrer Anschauung zu manipulieren und mit unehrlichen Mitteln zu veröffentlichen. (Mehr zur Impfung siehe hier.)

Einfluss von Vitamin D

En erhöhter Vitamin-D-Spiegel (pränatal wie auch in früher Kindheit) senkt das Autismus-Risiko. Kinder mit Autismus haben durchschnittlich einen erniedrigten 25-hydroxyvitamin-D [25(OH)D]-Spiegel. Als Begründung wird angenommen, dass aktiviertes Vitamin D die DNA-Reparaturgene hoch reguliert; ein D-Mangel führt dementsprechend zu einer Störung der zellulären Reparaturfähigkeit (z. B. der Gehirnzellen) der neu entstehenden DNA-Mutationen, was das Risiko für Autismus erhöht. (39)Dermatoendocrinol. 2013 Jan 1;5(1):199-204

Einfluss von Folsäure

Auch ein Folsäuremangel während der Embryonalentwicklung soll ein erhöhtes Autismus-Risiko zur Folge haben, was jedoch nicht gesichert erscheint. (40)Castro K et al. Nutr Neurosci. 2014 Aug 2 In der prospektiven Studie war festgestellt worden, dass eine Folsäure-Gabe während der Schwangerschaft das Risiko eines Autismus beim Kind von 0,21 auf 0,10% senkt (41)JAMA. 2013 Feb 13;309(6):570-7. doi: 10.1001/jama.2012.155925. (siehe hier).


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ASD als Krankheit des Gehirns

Konnektivitätsstörung des Gehirns

Die Plastizität der neuronalen Synapsen ist entscheidend für die normale Funktionsfähigkeit des Gehirns. Genmutationen, die zu einer veränderten Synthese synaptischer Proteine führen, verändern die Konnektivität einzelner Hirnregionen. Dies ist beim Autismus (bzw. ASD, autism spectrum disorder) in unterschiedlicher Ausprägung der Fall.

Synaptopathien finden sich beispielsweise bei folgenden genetisch determinierten Anomalien, dem fragilen X-Syndrom, der tuberösen Sklerose, dem Angelman-Syndrom und dem Phelan-McDermid-Syndrom. Das fragile X-Syndrom (FXS) ist in etwa 60% mit Autismus assoziiert. Ein Mausmodell des FXS hat aufgedeckt, dass eine erhöhte mTOR-Aktivität in den dendritischen Synapsenbereichen der Neuronen bestimmter Hirnregionen vorliegt und so die Synapseneigenschaften verändern und zur Symptomatik beitragen kann. Daraus wird der Gedanke abgeleitet, dass mTOR-Hemmer bei bestimmten Fällen von syndromischem Autismus zu einer Besserung defizitärer Leistungen des Gehirns führen könnte (42)Curr Opin Neurol. 2015 Apr;28(2):91-102 (43)CNS Neurol Disord Drug Targets. 2016;15(5):533-43.

Konnektivität von Hirnregionen: Voneinander entferntere Hirnregionen zeigten in Untersuchungen eine geringere Konnektivität, wohingegen näher beieinander liegende eine erhöhte Konnektivität aufwiesen (44)Curr Opin Neurol. 2016 Apr;29(2):137-47. Während der kindlichen Hirnentwicklung entwickelt sich vor allem eine Störung der lokalen Konnektivität  sensorische Hirnregionen, wohingegen eine höhere Konnektivität in Hirnregionen auftritt, die mit komplexer Informationsverarbeitung befasst sind (45)Autism Res. 2016 Jan;9(1):43-54.. Eine lokale Überkonnektivität wurde beispielsweise im rechten oberen frontalen Gyrus sowie im mittleren frontalen Gyrus gefunden, verbunden mit einer gleichzeitigen Unterkonnektivität in den beidseitigen fusiformen Gyri und dem mittleren temporalen Gyrus, was zur sozialen und kommunikativen Fehlfunktion bei Erwachsenen mit Autismus passt (46)Mol Autism. 2015 May 24;6:30. doi: 10.1186/s13229-015-0026-z. eCollection 2015..

Auffälligkeiten im Gehirn

Bei Menschen, die nach den obigen Kriterien autistisch sind, finden sich bei differenzierten Untersuchungen des Gehirns folgende Auffälligkeiten.

  • Sozialfähigkeit: fMRI-Untersuchungen haben eine Dysfunktion in spezifischen Gehirnnetzwerken ergeben, die in die soziale und nicht soziale Wahrnehmungsfähigkeit involviert sind. In ihnen bestehen eine signifikant reduzierte funktionale Konnektivität (Verbindungsreichtum) zwischen den Knoten des „sozialen Gehirns“ (Gehirnbezirke, die in soziale Verhaltensweisen involviert sind) sowie eine atypisch verbreiterte Konnektivität der Neurone und eine Abschwächung der Knotenbildung: Die Vernetzung der Neurone wird diffuser. Dies unterscheidet sich von normalen Bedingungen, unter denen sich im Gehirn neuronale Knoten finden, die über gebündelte Verbindungen hoch strukturiert miteinander kommunizieren. (47)PLoS One. 2014 Apr 8;9(4):e94115
  • Emotionen: Der Mandelkern (Amygdala) spielt eine bedeutende Rolle beim Autismus. In einigen Fällen wird eine größere rechte Amygdala im Alter von 3-4 Jahren gefunden. Sie ist assoziiert mit einem schwereren Verlauf der Autismus-Spektrum-Störung. Die Amygdala wird als Teil des „sozialen Gehirns“ aufgefasst. Seine veränderte Morphologie beim Autismus wird daher mit dem gestörten emotionalen Verständnis von Gesichtsausdrücken, dem mangelhaften Augenkontakt und der verminderten Empathie in Zusammenhang gebracht. Es wird die Hypothese vertreten, dass dem Autismus ein Zusammenbruch in dem „Relevance Detector Network“ (neuronales Netzwerk zur Entdeckung wichtiger Zusammenhänge) zugrunde liegt. (48)Front Hum Neurosci. 2013 Dec 30;7:894
  • Schmerz: fMRI- und ERP-Untersuchungen zeigen, dass Menschen mit ASD eine erniedrigte Schmerzschwelle aufweisen. Laut Hirnmessungen kommt es bei Menschen mit „high functioning ASD“ zu einer erhöhten empathische Erregung, wenn sie andere Menschen in Not sehen (z. B. Ausdruck von Schmerzen). Sie können daraus aber kein soziales Verständnis ableiten. (49)Transl Psychiatry. 2014 Jan 14;4:e343  (50)Soc Cogn Affect Neurosci. 2014 Aug;9(8):1203-13

Manifestationsalter des Autismus

Die Störungen im Verhalten und Empfinden, die für ASDs typisch sind, werden manifest, wenn Kleinkinder beginnen, zunehmend zu kommunizieren, also ab etwa 2-3 Jahren. Die zugrunde liegenden Veränderungen im Gehirn haben sich vermutlich bereits deutlich vorher ausgebildet, zumal viele Umweltfaktoren inkl. Medikamente (wie Valproinsäure), die zur Entwicklung eines Autismus beitragen, schon während der Embryogenese wirken. (51)J Comp Neurol. 1996 Jun 24;370(2):247-61 Ganz entsprechend haben feinere Untersuchungen gezeigt, dass bereits in den ersten 6 Monaten nach der Geburt erste ASD-Symptome (z. B. mangelnder Blickkontakt) erkennbar sind. (52)Int J Dev Neurosci. 2005 Apr-May;23(2-3):189-99

Late-onset-Autismus

Selten entwickeln sich Autismus-Symptome erst in der späteren Kindheit oder im Jugendalter (late-onset autism). In einigen Arbeiten wird dies mit einer Veränderung der Magendarmflora in Verbindung gebracht (53)J Immunoassay Immunochem. 2014;35(1):101-9, aber auch eine immunologisch bedingte Enzephalitis (NMDA receptor antibody encephalitis) kann offenbar zu einer späteren Entwicklung eines Autismus führen. (54)Lancet. 2011 Jul 2;378(9785):98 Auch wird eine chronische Infektion im Körper für die Entwicklung spät auftretender autistischer Symptome verantwortlich gemacht, wobei immunologische Reaktionen eine Rolle spielen sollen. (55)World J Biol Psychiatry. 2002 Jul;3(3):162-6

Symptomatik

Das Erscheinungsbild eines Autismus ist sehr vielfältig. Es finden sich fließende Übergänge aller Schweregrade von fast normalem Verhalten bis hin zu erheblichen Verhaltens- und Erlebensstörungen mit psychosozialen Einschränkungen und Auswirkungen auf das tägliche Leben.

Asperger-Syndrom

Menschen mit Asperger-Syndrom (nach Hans Asperger 1944) sind dadurch gekennzeichnet, dass sie in der sprachlichen Entwicklung nicht verzögert sind und ihre kognitive Entwicklung nur durch spezifische Beeinträchtigungen in einzelnen Bereichen gestört ist. Sie haben Probleme bei sozialen Interaktionen, verbaler und nonverbaler Kommunikation, was die soziale Entwicklung stört. Sie können Verhaltensauffälligkeiten verschiedener Ausprägung (inkl. Stereotypien) zeigen. Kindliche Neugier kann eingeschränkt und das Interesse begrenzt sein. Die Symptomatik ist meist so diskret, dass die Diagnose oft erst spät gestellt wird (im Mittel erst mit 11 Jahren), gelegentlich erst im Jugendlichen- oder Erwachsenenalter. Das Risiko der Entwicklung einer Depression (wegen inadäquater Hilfestellung) ist erhöht. (56)Encephale. 2019 Apr;45(2):169-174. DOI: 10.1016/j.encep.2018.11.005  (57)Hosseini SA, Molla M. Asperger Syndrome. 2022 May 2. In: StatPearls [Internet]. Treasure Island … Continue reading

ASD: Eingeschränkte Empathie und sozialer Kontakt

Deutung der Gefühlsausdrücke anderer Menschen eingeschränkt: Beim Autismus fallen schon Kleinkinder unter 1 Jahr dadurch auf, dass sie nicht adäquat auf Augenkontakt, das Rufen ihres Namens oder Bilder reagieren und verspätet zu spielen und zu sprechen anfangen. Da ihnen Augen- und Gesichtsausdrücke nichts besagen, behalten solche Kinder oft bis ins Erwachsenenalter die Eigenart, bei Gesprächen nicht in die Augen ihres Gegenübers zu sehen. In der Differenzierung von Gesichtsausdrücken werden in entsprechenden Tests, die auf die Differenziertheit des empathischen Empfindens ausgerichtet sind, mehr oder weniger Fehler gemacht. (58)PLoS One. 2014 Jun 6;9(6):e98436

Eine Störung der Empathie gehört zu den zentralen Charakteristika des Autismus. Empathie basiert auf Kognition (Erkennen) einer emotionalen Situation und Erregung eines eigenen Affekts (Gemütsregung). Beim Autismus wurde bisher vorwiegend der kognitive Prozess als beeinträchtigt angesehen, aber auch die affektive Empathie kann in unterschiedlichem Ausmaß gestört sein. (59)PLoS One. 2014 Jun 6;9(6):e98436 Je nach Schweregrad besteht eine reduzierte oder mangelhafte Fähigkeit, nonverbale Signale und Gefühlsregungen anderer Menschen (z. B. Trauer, Freude, Aufmerksamkeit, Langeweile, Furcht, Hass, Schmerz) zu verstehen und Empathie zu empfinden.

Mangelnde Ausdrucksmöglichkeit eigener Gefühle: Auch können eigene Gefühlsregungen nicht ausreichend mimisch und gestisch vermittelt werden. Beides bedingt eine (je nach Schweregrad) schwierige Eingliederung in Sozialstrukturen, z. B. in eine Schulklasse oder einen Verein, sowie Schwierigkeiten, Kontakte zu pflegen und Freundschaften aufzubauen, was zu einer sozialen Isolierung führt.

Gestörtes soziales Handeln: Neueren Befunden zufolge scheint zwischen der eigenen affektiven Erregbarkeit durch miterlebte kritische Situationen anderer Menschen und ihrer Auswirkung auf soziales Handeln unterschieden werden zu müssen; das erstere scheint in einigen Fällen möglich, das letztere nicht (s. u.). Dies gilt vor allem für die emotionale Erkennung von Schmerz anderer Menschen, der zu einer verstörten Reaktion führt, aber keine Hilfereaktion auslöst. (60)Transl Psychiatry. 2014 Jan 14;4:e343

Eingeschränkte Aufmerksamkeit

Viele Eltern bemerken als erstes Zeichen einer ungewöhnlichen (später als autistisch einzuordnenden) Verhaltensweise ihres Kindes Reaktionen, „als ob es taub sei“, was oft durch eine audiologische Prüfung geklärt werden muss [61]. (61)Pediatrics. 2007 Nov; 120(5):1183-215

Menschen mit ASD haben Schwierigkeiten, die Bedeutung einer Situation zu begreifen, was selbst beim „high functioning“ Autismus zu einer mangelhaften Konzentration auf Wesentliches führen kann. Dies wirkt sich negativ auf viele Lebenssituationen aus, so z. B. auf die Leistungsfähigkeit im Unterricht, auf eine gefahrenadäquate Aufmerksamkeit beim Fahrrad- und Autofahren oder bei sonstigen gefährlichen Tätigkeiten. Die Auswirkungen können einem ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrm) ähneln, da alle Reize von außen praktisch gleichwertig erscheinen, gleichermaßen Aufmerksamkeit auf sich ziehen und ständig ablenken.

Eingeschränkte Interessen, repetitive Verhaltensweisen, fehlende Fähigkeit zu Umgewöhnungen

Schon bei kleinen Autismus-Kindern fällt ihre Interessearmut Neuem gegenüber auf. Wenn sie sich beschäftigen, so mit eingeschränktem Fokus. Oftmals kommt es zu einer ausgeprägten Konzentration auf nur wenige Themen und Vorlieben. Menschen mit ASD können dabei durch ständig wiederholte Beschäftigung mit bevorzugten Themen viel Sachwissen anhäufen, ohne jedoch die inneren Zusammenhänge zu verstehen. Beispiele sind Beschäftigungen mit Fahrplänen oder anderen Datensammlungen.

Es entwickeln sich motorische Stereotypien. Wiederkehrende Verhaltensweisen, wie die gehäufte Benutzung gewohnter Dinge oder der Drang, immer wieder auf Zehenspitzen zu gehen, müssen bei geringerer Ausprägung Eltern und auch Kinderärzten nicht unbedingt als ungewöhnlich auffallen, was die Diagnosestellung verzögert. Auch wenn das ASD-Bild oft erst nach Jahren erkannt wird, so lassen sich Autimus-typische Verhaltensweisen oft retrospektiv erfragen und dann nachträglich in das Bild eines ASD einordnen. Das Verhalten kann in Ritualen münden, die unübersehbar abnormal sind.

Veränderungen von Handlungsabläufen oder etwa der Wohnungseinrichtung können Autisten schwer bewältigbare Probleme bereiten und bei ihnen für teils heftige Stressreaktionen sorgen. So bedeutet auch der Tod einer gewohnten Bezugsperson einen extremen Stress, der schwierig nahe zu bringen ist.

Gastrointestinale Symptome

Unter dem Blickwinkel, dass Veränderungen der Darmflora mit der Entwicklung von Autismus zusammenhängen (s.o.), ist es von Bedeutung, dass Mütter autistischer Kinder (laut einer großen Studie) über erhöhte Häufigkeit von Verstopfung (2,7-fach) und Nahrungsmittelunverträglichkeit (1,7-fach) im Alter der Kinder von 6 – 18 Monaten berichten. Im Alter von 18-36 Monaten war die Häufigkeit von Diarrhö 2,3-fach, von Verstopfung 1,6-fach und einer Nahrungsmittelunverträglichkeit 2,0-fach erhöht. (62)JAMA Psychiatry. 2015 Mar 25. doi: 10.1001/jamapsychiatry.2014.3034


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Diagnosestellung eines Autismus

Die Diagnose eines ASD beruht ausschließlich auf Anamnese und Verhaltensbeobachtung und dem Ausschluss von somatischen Erkrankungen als Ursache. Zur Diagnosefindung werden folgende Störungen und Auffälligkeiten herangezogen:

  • Soziale Beeinträchtigung: Menschen mit Autismus können soziale und emotionale Signale nur schwer einschätzen und haben ebenso Schwierigkeiten, diese auszusenden. Deshalb sind ihre Reaktionen auf Gefühle anderer Menschen selten angemessen, und sie haben Schwierigkeiten, ihr Verhalten an eine soziale Situation anzupassen.
  • Kommunikationsstörungen: Auch die Entwicklung des Sprachgebrauchs und des Sprachverständnisses ist betroffen: Autistischen Menschen fällt es schwer, etwa ihre Sprachmelodie oder ihre Tonlage an die Situation anzupassen. Ebenso verwenden sie kaum Gestik, um den Sinn einer Aussage zu unterstreichen. Dies führt zu Schwierigkeiten in der direkten Kommunikation mit anderen Menschen.
  • Repetitives Verhalten: Alltägliche Aufgaben führen Autisten meist starr und routiniert aus. Häufig finden sich wiederholende und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten.

Um die Diagnosestellung möglichst objektiv zu gestalten, werden standardisierte Fragebögen verwendet. Verbreitet ist CARS (childhood autism rating scale). Der Beurteilung liegen 15 Eindrücke über das zu beurteilende Kind zugrunde, die mit 1 bis 4 Punkten bewertet werden:

  • Beziehung zu anderen Menschen,
  • Imitation,
  • emotionale Resonanz,
  • körperliche Geschicktheit,
  • Geschicktheit beim Gebrauch von Gegenständen,
  • Anpassungsfähigkeit bei veränderten Gegebenheiten,
  • Resonanz auf Gesehenes,
  • Resonanz auf Gehörtes,
  • Resonanz auf Tasten, Schmecken, Berührung,
  • Furcht, Nervosität,
  • verbale Kommunikation,
  • nichtverbale Kommunikation,
  • Aktivität,
  • Stärke und Konsistenz einer intellektuellen Antwort,
  • allgemeiner Eindruck.

Die Summe der Punkte kann zwischen 15 und 60 liegen. Die Rating-Scale wurde mehrfach modifiziert. Ein Cut-off zur Unterscheidung des Autismus von PDD-NOS wurde bei 2-jährigen Kindern beispielsweise bei 32 und bei 4-jährigen Kindern bei 30 als am besten gefunden, für die Unterscheidung zwischen PDD-NOS und „normal“ bei 25,5. (63)J Autism Dev Disord. 2010 Jul;40(7):787-99 Es wird vermutet, dass das Asperger-Syndrom und PDD-NOS mit dem „high-functioning“-Autismus überlappen, so dass diese Untergruppen aufgrund solcher Bewertungsskalen vielfach nicht gut unterscheidbar sind. (64)Curr Dev Disord Rep. 2014 Mar 1;1(1):20-28

Schweregrad der Autismus-Störung

Die Ausprägung der Symptome kann in Punkte eingeteilt und zur Bestimmung des Schweregrads des ASD verwendet werden. Aus praktischen Gründen wird oft eine grobe Einteilung in „high functioning“ und „low functioning“ Autismus vorgenommen. Menschen mit „high functioning“ Autismus können einerseits zwar Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen haben, andererseits aber auf nicht emotionalen Gebieten, wie z. B. bei mathematischen oder technisch-analytischen Aufgaben oder beim Aufbau und der Verwaltung von Sammlungen hohe Begabungen an den Tag legen (Savants, s. u.). Menschen mit „low functioning“ Autismus sind dagegen selbst bei einfachen Anforderungen des täglichen Lebens auf Hilfe angewiesen und reagieren bereits auf kleine Veränderungen ihres Tagesablaufs oder der gewohnten engeren Umwelt mit Verstörung. Dies kann dazu führen, dass nur Bekanntes gesucht und durchgeführt wird bis hin zu einer Erstarrung in Routinen und repetitiven Verhaltensweisen. Oft eignen sich Autisten tabellarisches Wissen ohne Kenntnis des Zusammenhangs an. In wenigen Fällen scheint ihnen das besonders leicht zu fallen, was zu Publizität führt; aber dies ist bei der Vielfalt der Erscheinungsformen durchaus nicht die Regel.

Verschiedene Formen und Ausprägungen autistischer Störungen

Autismus

Der Autismus war bisher durch eine Verzögerung der normalen Entwicklung im Kleinkindesalter bis zu 3 Jahren in mindestens einer der folgenden Punkte gekennzeichnet:

  • soziale Interaktion
  • Kommunikation (sprachlich, mimisch oder gestisch),
  • sterotype, repetitive Verhaltensweisen, Aktivitäten und Interessen.

Unter den Autisten gibt es solche mit Inselbegabungen (Savants), die auf bestimmten engen Gebieten besondere Fähigkeiten erlangen (Zahlentabellen, Mathematik, Kunst, Musik etc.). Savant-Fähigkeiten sind aber eher selten zu finden.

Symptomatik

Bereits bei kleinen Kindern können sich Symptome entwickeln, die auf einen Autismus schließen lassen. Dazu gehören ein eingeschränkter Blickkontakts, eine verzögerte Spracherlernung und eine offensichtliche Schwierigkeit, Gefühle im Gesicht anderer Menschen zu erkennen. Je früher die Symptomatik einsetzt, desto schwerer bahnt sich der Verlauf an. Viele erlernen nicht die Sprache und bedürfen lebenslang Windeln. Es können sich unkontrolliert aggressives Verhalten und stereotype Verhaltensweisen entwickeln. Gefürchtet sind für die Betreuer die urplötzlich eskalierenden „Meltdowns“ (Kernschmelzen: plötzliche Zusammenbrüche mit Schreien und unkontrollieren, oft agressiven Bewegungen). Sie entwickeln sich für die Eltern meist vorhersehbar aus negativ erlebten Situationen (oft reicht ein Nein). Die Angst der Eltern vor diesen Meltdowns stellt ein spezielles Problem dar, das einer Supervision bedarf. (65)Health Place. 2010 Sep;16(5):868-75. doi: 10.1016/j.healthplace.2010.04.012  (66)Clin Child Psychol Psychiatry. 2018 Jan;23(1):125-139. doi: 10.1177/1359104517730114 Zur Therapie siehe hier.

Asperger-Syndrom

Das Asperger-Syndrom (benannt nach dem österreichischem Kinderarzt Hans Asperger) gehört zu den Autismus-Spektrum-Störungen. Es unterscheidet sich von anderen Formen des Autismus durch eine weitgehend erhaltene Entwicklung kognitiver und sprachlicher Fähigkeiten und der Intelligenz. Allerdings sind manchmal eine gewisse körperliche Ungeschicklichkeit und ein seltsamer Sprachgebrauch auffällig. Das Asperger-Syndrom rangiert auf der Schweregrad-Skala der ASDs unter den weniger ausgeprägten Formen. Es besteht ein fließender Übergang zum „high-functioning-Autismus“.

Heller-Syndrom

Das Heller-Syndrom ist ein unerklärter zunehmender Abbau geistiger und motorischer Fähigkeiten, das bei Kleinkindern im Alter von etwa 3 Jahren beginnt und rasch zunehmend autistische Verhaltensweisen an den Tag legt (67)Nervenarzt. 1983 Nov;54(11):604-6.

Rett-Syndrom

Das Rett-Syndrom wird trotz Ähnlichkeiten im Erscheinungsbild nicht zu den ASDs gerechnet. Es ist eine genetisch determinierte Krankheit, die praktisch ausschließlich das weibliche Geschlecht betrifft. Es beruht auf der Mutation des Gens für das Methyl-CpG-Bindungsprotein 2 (MECP2). Die Entwicklung der ersten 6-18 Monate verläuft normal. Dann jedoch kommt es zu einem rapiden Verlust erworbener motorischer, kognitiver, sprachlicher und sozialer Fähigkeiten, was sich in einem zunehmend schweren autistischen Bild äußert. Zentral für die Entwicklung der Symptomatik scheint eine Störung des Stoffwechsels von Cholesterin (Bestandteil von Zellmembranen, so auch von Membranen von Nervenzellen) zu sein. (68)PLoS One. 2014 Aug 12;9(8):e104834 (Zum Rett-Syndrom siehe hier.)

Häufige ASD-assoziierte Begleitkrankheiten

Die Autismus-Störung ist übernormal häufig mit anderen neurologischen und psychiatrischen Auffälligkeiten assoziiert. Dazu gehören bei ASD-Betroffenen mit erhaltener Intelligenz (high functioning Autismus / Asperger-Syndrom) in wechselnder Ausprägung: (69)BMC Psychiatry. 2009 Jun 10;9:35. doi: 10.1186/1471-244X-9-35.

  • das Tourette-Syndrom (angeborene Verhaltensauffälligkeiten mit Tics, Grimmassenschneiden, Kopfwerfen),
  • die Epilepsie,
  • Zwangsstörungen (nicht überwindbare zwanghafte Gedanken oder Tätigkeiten),
  • Angststörungen,
  • das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS),
  • Stimmunsgschwankungen.

Auch findet man eine ASD-Störung häufiger bei einem „Fragilen-X-Syndrom“ (FXS) und einer tuberösen Sklerose (Morbus Bourneville). Die tuberösen Sklerose ist eine genetisch determinierte Erkrankung, bei der der mTOR-Signalweg überaktiviert ist. Diese Form reagiert günstig auf mTOR-Hemmer (siehe hier).

Therapie des Autismus

Die Führung und Behandlung von Menschen mit ausgeprägt autistischen Verhaltensweisen richtet sich auf stressarme Lebensbedingungen, eine Verbesserung der Fähigkeit, andere Menschen zu verstehen (Theory of Mind, ToM), Sozialfähigkeit und eine Milderung krankhafter, sozial beeinträchtigender Symptome. Da diese sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können, erfolgt die Behandlung individuell, wobei eine Reihe von Maßnahmen in Betracht kommt. Dazu gehören die Einrichtung eines stressarmen Umfelds, ein Verhaltenstraining, diätetische Maßnahmen und ggf. Medikamente.

→ Zur Therapie siehe hier.


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Verweise

 


Autor: Prof. Dr. Hans-Peter Buscher (s. Impressum)


 

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