Marfan-Syndrom

Artikel aktualisiert am 18. Dezember 2022

Das Marfan-Syndrom (MFS) gehört zu den genetischen Erkrankungen des Bindegewebes mit Hauptmanifestationen an Herz und Blutgefäßen, Augen sowie Knochen und Gelenken. (1)Ann Cardiothorac Surg. 2017 Nov;6(6):582-594. doi: 10.21037/acs.2017.11.03 (2)Appl Clin Genet. 2016 May 9;9:55-65. doi: 10.2147/TACG.S96233. Etwa 80% der Betroffenen weist eine Manifestation am Herzkreislaufsystem auf. Die häufigste und schwerwiegendste Manifestation betrifft ein Aortenaneurysma, das sich zur Aortendissektion weiterentwickeln und rupturieren kann. Die Sterblichkeit ist hoch.


→ Über facebook informieren wir Sie über Neues und Inteessantes.



Häufigkeit

Die Prävalenz liegt bei mindestens 1 auf 5000 (3)Clin Case Rep. 2017 Jul 18;5(9):1429-1434. doi: 10.1002/ccr3.1058.. Beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen.

Genetische Ursache

Das Marfan-Syndrom ist eine von vielen genetisch bedingten Bindegewebskrankheiten. Die Vererbung ist autosomal-dominant. Ursächlich ist ein Mangel am Matrixprotein Fibrillin-1. Es besteht eine heterozygote FBN1-Mutation auf dem langen Arm von Chromosom 15. Die Mutation bewirkt eine überschießende Bildung von TGF-beta (transforming growth factor beta). Die Veränderung des Fibrillins führt zu einer Bindegewebsschwäche mit Auswirkung auf die Stabilität des Binde- und Stützgewebes sowie des Knochen- und Gelenksystems.  (4)Nature. 1991; 352: 337–339. Inzwischen gibt es mindestens 57 Varianten des Gens. (5) 2018 Jan 22;13(1):16. doi: 10.1186/s13023-017-0754-6. In etwa 1/3 der Fälle wird von einer de-novo-Mutation (neue, erworbene Anomalie im verantwortlichen Gen) ausgegangen; in diesen Fällen lässt sich eine familiäre Belastung nicht nachweisen. (6)Lancet. 2005 Dec 3;366(9501):1965-76. (7)Appl Clin Genet. 2016 May 9;9:55-65. doi: 10.2147/TACG.S96233.

Auch weitere Gene können ähnliche Manifestationen wie die eines MFS bewirken. Beispiel:

  • Mutation von TGFBR2 (transforming growth factor ß receptor type II gene, TGFBR2) auf Chromosom 3 (8)Nat Genet. 1994 Nov;8(3):264-8.. Es ist für das MFS Typ 2 verantwortlich, das sog. Loeys-Dietz-Syndrom,
  • Mutation von SMAD2/3. (9)Ann Cardiothorac Surg. 2017 Nov;6(6):582-594. doi: 10.21037/acs.2017

Diagnostik

Die Diagnose des Marfan-Syndroms wird nach den Ghent-Kriterien diagnostiziert (10)Am J Med Genet. 1996; 62: 417–426. Es kommt ins Blickfeld, wenn Veränderungen des Körperbaus auffallen, insbesondere (in wechselnder Häufigkeit) (11)J Med Genet. 2010 Jul;47(7):476-85. doi: 10.1136/jmg.2009.072785. (12)Spec Care Dentist. 2013 Sep-Oct;33(5):248-54. doi: 10.1111/scd.12018. Epub 2013 Feb 28. (13)Am J Med Genet A. 2004 Dec 15;131(3):240-8.:

  • langschmaler Habitus,
  • Thoraxverformung wie Hühnerbrust (pectus carinatum) oder Trichterbrust (pectus excavatum),
  • unproportional lange Extremitätenknochen,
  • Skoliose (Wirbelsäulenverbiegung, Spondylolisthesis (Wirbelgleiten)
  • „Spinnefingrigkeit“ (Arachnodactylie),
  • Retrognathie des Unterkiefers und erhebliche Fehlstellung der Zähne
  • Gelenkschlottern, Hypermotilität und Überstreckbarkeit von Gelenken,
  • Fingerkontrakturen und Kontrakturen können besonders bei Kindern mit rasch fortschreitendem MFS vorliegen,
  • Plattfüße, Senkfüße,
  • hoher Gaumen.

Die Diagnose wird umso wahrscheinlicher, je mehr der Symptome vorliegen. Ist in der nahen Blutsverwandtschaft ein MFS-Diagnose vor, so reichen schon wenige für einen Verdacht. (14)Lancet. 2005 Dec 3;366(9501):1965-76. Die Diagnose wird bei folgenden zusätzlichen Anomalien wahrscheinlich:

  • Aortenklappenerkrankung mit Erweiterung des Aortenansatzes oberhalb der Aortenklappe und
  • Linsenschlottern, Linsendislokation und -ektopie, meist an beiden Augen: Verlagerung (Dislokation) der Linsen durch Schwäche der Aufhängung (in etwa 60%) (15)Trans Am Ophthalmol Soc. 1981;79:684-733.. Meist ist eine Sehstörung die Folge (z. B. Doppelbilder).

Sie werden nach der Ghent-Nosologie als Kardialsymptome angesehen. Die Diagnose wird im Zweifel durch Nachweis einer FBN1-Mutation gesichert.

Wenn in der Familienanmanese ein Marfan-Syndrom diagnostiziert wurde, ist bereits ein schwacher klinischer Hinweis Grund genug, eine genetische Analyse durchzuführen. Denn eine möglichst frühzeitige medikamentöse Vorbeugung einer fortschreitenden Herzkreislaufkomplikation (s. u.) kann von entscheidender Bedeutung für die Prognose sein. (16)Appl Clin Genet. 2016 May 9;9:55-65. doi: 10.2147/TACG.S96233.

Manifestationen

Das Marfan-Syndrom manifestiert sich an folgenden Stellen (17)Am J Med Genet A. 2008 Dec 15;146A(24):3157-66. doi: 10.1002/ajmg.a.32595.:

Skelett-Veränderungen

Sie finden sich in 31% (siehe unter Diagnostik). Allerdings sind Marfan-ähnliche Symptome auch bei anderen Bindegewebserkrankungen zu finden (18)Am J Med Genet A. 2008 Dec 15;146A(24):3157-66. doi: 10.1002/ajmg.a.32595.. Je nach Art der FBN1-Mutation scheint die Auswirkung auf das Skelett unterschiedlich zu sein. Bei einer R2726W-Variante beispielsweise wurde bei Zwillingen ein langes Gesicht, eine ausgeprägte Trichterbrust, in einem Fall eine Skoliose (Verbiegung der Wirbelsäule) und die Abwesenheit sonstiger Veränderungen am Skelett gefunden. (19)BMC Musculoskelet Disord. 2016 Feb 15;17:79. doi: 10.1186/s12891-016-0935-9.

Kardiovaskuläre Manifestationen

Herzrhythmusstörungen  sind häufig.

Aortendissektion im CT-Bild
Aortendissektion im CT-Bild (Pfeil). Das Kontrastmittel befindet sich im falschen Lumen; im echten ist ein Thrombus. Der obere Pol der rechten Niere ist nicht durchblutet; der Abgang der rechten Nierenarterie befindet sich im Thrombusbereich.

Eine Aortendissektion gehört zu den häufigsten und quo ad vitam risikoreichsten Komplikationen; sie wird in etwa 19% diagnostiziert (20)Am J Med Genet A. 2008 Dec 15;146A(24):3157-66. doi: 10.1002/ajmg.a.32595 (21)Verh K Acad Geneeskd Belg. 2009;71(6):335-71.. Medikamentös werden Betablocker und Angiotensinrezeptorantagonisten (AT1-Blocker) als etwa gleichwertige Alternativen angesehen (22)Ann Cardiothorac Surg. 2017 Nov;6(6):654-661. doi: 10.21037/acs.2017.11.09. In Studien wurde festgestellt, dass Losartan möglicherweise das Fortschreiten eines Aortenaneurysmas zur Dissektion verzögert. Als Biomarker für eine Progredienz werden das Gesamt-Homocystein, der transformierende Wachstumsfaktor-beta (TGF-ß) im Serum, und die Lysyloxidase genannt. (23)Appl Clin Genet. 2016 May 9;9:55-65. doi: 10.2147/TACG.S96233.

Lungenmanifestation

Bei einem Marfan-Syndrom kommt es gelegentlich (in 5-11%) zu einem spontan auftretenden Pneumothorax, meist auf dem Boden sich frühzeitig bildender Emphysemblasen. Auch kommen gehäuft Pneumonien, Bronchiektasen und eine Fibrose der Oberlappen vor (24)Thorax. 1984 Oct;39(10):780-4. (25)J Thorac Dis. 2017 Dec;9(12):E1100-E1103. doi: 10.21037/jtd.2017.11.66.

Ausweitung des Duralsacks

Sie findet sich meist im lumbalen Bereich und führt zu einer Erweiterung des Spinalkanals und einer Verschmälerung der umgebenden Knochenteile der Wirbel. Auch eine Meningocele kann entstehen. Die Auswirkungen betreffen Schmerzen im unteren Rücken, Kopfschmerzen, Schwäche der Oberschenkel und Beckenbodenbeschwerden (26)Appl Clin Genet. 2016 May 9;9:55-65. doi: 10.2147/TACG.S96233.

Orale Manifestation

Typisch für das Marfan-Syndrom ist ein hoher Gaumen und ein zu kleiner und zurückstehender Unterkiefer mit (oft wildem) Fehlstand der Zähne. (27)Clin Case Rep. 2017 Jul 18;5(9):1429-1434. doi: 10.1002/ccr3.1058.

Manifestation am Auge

Sie finden sich in etwa 9% der Fälle (28)Am J Med Genet A. 2008 Dec 15;146A(24):3157-66. doi: 10.1002/ajmg.a.32595.. Häufig (in etwa 60%) findet sich eine Dislokation der Linse beidseits. Wegen dadurch bedingter Sehstörungen (meist Doppelbilder) wird häufig operiert. Eine sklerale Linsenfixation zeigt bei einer Nachverfolgung über im Schnitt 4 Jahre ein zufriedenstellendes Ergebnis. (29)BMC Ophthalmol. 2017 Dec 6;17(1):235. doi: 10.1186/s12886-017-0625-x. Neben der Linsendislokation finden sich am Auge häufig eine Verlängerung der Bulbi und  eine Abflachung der Corneabiegung, eine Neigung zu früh entstehender Katarakt, einem Glaukom und Amblyopie (Kurzsichtigkeit). (30)Acta Ophthalmol. 2013 Dec; 91(8):751-5

MFS und Schwangerschaft

Die Komplikationsrate des Marfan-Syndrom ist in der Schwangerschaft erhöht, insbesondere wegen Aortendissektion und Herzinsuffizienz; zusätzlich besteht eine erhöhte Rate an verlängerten postpartalen Blutungen. (31)Ann Cardiothorac Surg. 2017 Nov;6(6):642-653. doi: 10.21037/acs.2017.10.07. In einer Zusammenstellung von 21 Fällen kam es zu keinem Todesfall, aber zu 2 Herzoperationen (32)BJOG. 2014 Apr;121(5):610-7. doi: 10.1111/1471-0528.12515 In einer anderen Studie wurden bei etwa 7,000,000 Geburten 339 Geburten von Frauen mit MFS gezählt. Von ihnen ist 1 gestorben, 6 hatten eine Aortendissektion. Eine Schnittentbindung erfolgte überdurchschnittlich vorzeitig und häufig (OR um 2). Die Kinder waren im Mittel (OR 2,06) zu klein für das Schwangerschaftsstadium. Ein deutlich erhöhtes Risiko betraf Herzrhythmusstörungen (ORetwa 10), und einen Pneumothorax (OR über 50) (33)Am J Perinatol. 2015 Feb;30(2):123-30. doi: 10.1055/s-0034-1376179

Therapie

Die Behandlung konzentriert sich auf eine Vorbeugung und die Beherrschung von Komplikationen (wie Aortenklappenersatz, Operation einer Aortendissektion). Möglicherweise können ß-Blocker einer Aortenerweiterung und -dissektion vorbeugen (34)Dtsch Arztebl 2008; 105: 483-491.

Wegen des deutlich erhöhten Endokarditis-Risikos wird eine Antibiotikaprophylaxe bei interventionellen Eingriffen (Zahnbehandlung, Endoskopie) diskutiert (35)Dtsch Arztebl 2008; 105: 483-491.

Neue Therapiemöglichkeiten werden in Antagonisten zu TGF-beta (s.o.) gesucht. Im Mausmodell kann die Bildung eines Aortenaneurysmas durch TGF-beta-neutralisierende Antikörper oder AT1-Blocker (Losartan) verhindert werden (36)Science. 2006 Apr 7;312(5770):117-21.

Verweise

 


Autor der Seite ist Prof. Dr. Hans-Peter Buscher (siehe Impressum).


 


Literatur

Literatur
1Ann Cardiothorac Surg. 2017 Nov;6(6):582-594. doi: 10.21037/acs.2017.11.03
2Appl Clin Genet. 2016 May 9;9:55-65. doi: 10.2147/TACG.S96233.
3Clin Case Rep. 2017 Jul 18;5(9):1429-1434. doi: 10.1002/ccr3.1058.
4Nature. 1991; 352: 337–339
5 2018 Jan 22;13(1):16. doi: 10.1186/s13023-017-0754-6.
6Lancet. 2005 Dec 3;366(9501):1965-76.
7Appl Clin Genet. 2016 May 9;9:55-65. doi: 10.2147/TACG.S96233.
8Nat Genet. 1994 Nov;8(3):264-8.
9Ann Cardiothorac Surg. 2017 Nov;6(6):582-594. doi: 10.21037/acs.2017
10Am J Med Genet. 1996; 62: 417–426
11J Med Genet. 2010 Jul;47(7):476-85. doi: 10.1136/jmg.2009.072785.
12Spec Care Dentist. 2013 Sep-Oct;33(5):248-54. doi: 10.1111/scd.12018. Epub 2013 Feb 28.
13Am J Med Genet A. 2004 Dec 15;131(3):240-8.
14Lancet. 2005 Dec 3;366(9501):1965-76.
15Trans Am Ophthalmol Soc. 1981;79:684-733.
16Appl Clin Genet. 2016 May 9;9:55-65. doi: 10.2147/TACG.S96233.
17Am J Med Genet A. 2008 Dec 15;146A(24):3157-66. doi: 10.1002/ajmg.a.32595.
18Am J Med Genet A. 2008 Dec 15;146A(24):3157-66. doi: 10.1002/ajmg.a.32595.
19BMC Musculoskelet Disord. 2016 Feb 15;17:79. doi: 10.1186/s12891-016-0935-9.
20Am J Med Genet A. 2008 Dec 15;146A(24):3157-66. doi: 10.1002/ajmg.a.32595
21Verh K Acad Geneeskd Belg. 2009;71(6):335-71.
22Ann Cardiothorac Surg. 2017 Nov;6(6):654-661. doi: 10.21037/acs.2017.11.09.
23Appl Clin Genet. 2016 May 9;9:55-65. doi: 10.2147/TACG.S96233.
24Thorax. 1984 Oct;39(10):780-4.
25J Thorac Dis. 2017 Dec;9(12):E1100-E1103. doi: 10.21037/jtd.2017.11.66.
26Appl Clin Genet. 2016 May 9;9:55-65. doi: 10.2147/TACG.S96233.
27Clin Case Rep. 2017 Jul 18;5(9):1429-1434. doi: 10.1002/ccr3.1058.
28Am J Med Genet A. 2008 Dec 15;146A(24):3157-66. doi: 10.1002/ajmg.a.32595.
29BMC Ophthalmol. 2017 Dec 6;17(1):235. doi: 10.1186/s12886-017-0625-x.
30Acta Ophthalmol. 2013 Dec; 91(8):751-5
31Ann Cardiothorac Surg. 2017 Nov;6(6):642-653. doi: 10.21037/acs.2017.10.07.
32BJOG. 2014 Apr;121(5):610-7. doi: 10.1111/1471-0528.12515
33Am J Perinatol. 2015 Feb;30(2):123-30. doi: 10.1055/s-0034-1376179
34Dtsch Arztebl 2008; 105: 483-491
35Dtsch Arztebl 2008; 105: 483-491
36Science. 2006 Apr 7;312(5770):117-21